© Doris Maria Weigl

Englisches Essen: Versuch einer Ehrenrettung

Sie haben das Sandwich erfunden und den Curry nach Europa gebracht. Dennoch ist die Küche der Briten alles andere als gut beleumundet. Der Versuch einer Ehrenrettung.

Ach ja, die englische Küche … »Vorher ist man überzeugt, dass sie echt scheiße ist, aber hinterher wünscht man sich: Wenn sie das doch nur wäre.« So vernichtend, wie der 2019 verstorbene ehemalige französische Staatspräsident ­Jacques Chirac seinen Eindruck der britischen Kochkunst einst einem daraufhin todbeleidigten Tony Blair mitgeteilt hat, ­ist es wirklich nicht. Aber es stimmt schon, dass der britischen Küche ihr Ruf als die schlechteste der Welt nachhaltig nachhängt – zur Überprüfung empfiehlt sich eine Umfrage unter Gymnasiasten, die gerade aus den Sprachferien nach Hause kommen. Nun ist es aber auch so, dass Franzosen Chauvinismus nicht ganz fremd ist – und der Fraß, den man als Sprachschüler bei minder entlohnten Gastfamilien in abgewrackten Seebädern vorgesetzt bekommt, oft nur entfernt an Essen erinnert.

Import...

Die englische Küche darauf zu reduzieren, hieße aber, sich gängigen Vorurteilen allzu willig hinzugeben. Schließlich haben die Briten in der Geschichte des guten Essens wesentliche Kapitel mitgeschrieben. Das maßgebliche, jahrzehntelange Wirken von Auguste Escoffier, des für die moderne Küchenkultur wichtigsten Kochs, in den Londoner Luxushotels »Ritz«, »Savoy« und »Ritz-Carlton« ist dafür nur ein Indiz von vielen. Wahr ist aber auch: Die Briten mussten sich Küchenkompetenz immer ­von außen ins Land holen. Sogar Fish and Chips, das Nationalgericht der Insel, lässt sich auf sephardische Juden zurückführen.

...und Export

Andererseits ist es aber gerade diese Offenheit gegenüber neuen Ideen und Einflüssen, die London zur heute wohl aufregendsten Stadt für gutes Essen überhaupt gemacht hat. Fine Dining im klassischen Sinn lässt sich hier von Alain Ducasse, Pierre Gagnaire und Gordon Ramsay abwärts auf denkbar noble Weise zelebrieren. Gleich­zeitig sorgt eine blendend aufgestellte neue Generation von Spitzenköchinnen (Clare Smyth, Angela Hartnett, Hélène Darroze und viele andere) und -köchen für eine der höchs­ten Michelin-Stern-Dichten Europas. Aber nach London fährt man vor allem, um zu erleben, wie junge, entspannte Restaurants in den Außenbezirken mit hinreißend köstlichem Essen begeistern. Es sind meist kleine, unscheinbare Hütten wie das »Levan« in Peckham, das »Black Axe Mangal« in Highbury oder das »Brat« in Shoreditch, wo heute Trends entstehen, die bei uns, wenn überhaupt, erst nach Jahren auftauchen. Die Qualität ist deutlich höher als in vergleichbaren Schmelztiegel-Metropolen wie New York oder Singapur, die Professi­onalität der Akteure atemberaubend, die Güte der lokalen Zutaten nur mit Frankreich vergleichbar.

Rule, Brittania!

Dazu kommt die dem kolonialen Erbe geschuldete Vielfalt an ethnischen Küchen, die das britische Essen seit Jahrhunderten beeinflussen. Chicken Tikka Masala mag ganz offiziell das beliebteste Gericht der Briten sein, die indischen High-End-Res­taurants der Hauptstadt, von »Gymkhana« über »Amaya« und »Kahani« bis zum wiederauferstandenen »Tamarind« in Mayfair, aber demonstrieren souverän und auf vielfältige Art, dass die indische eine der köstlichsten Küchen überhaupt ist. Gleiches ­gilt für die chinesische, die Alan Yau mit Hotspots wie »Hakkasan«, »Yauatcha« oder »Duck and Rice« fast im Alleingang auf jenes Podest gestellt hat, das ihr gebührt. Wie himmelschreiend köstlich aber ­auch die genuin britische Küche schmecken kann, zeigt Heston Blumenthal in seinem »Dinner« vor, wo er ausschließlich auf historische britische Rezepte als Inspiration für aufregend köstliche Neuinterpretationen zurückgreift. Das urbritische »St. John« von Fergus Henderson wiederum war ­nicht nur für die weltweite Renaissance ­der Nose-to-tail-Küche verantwortlich, es zeigt auch 25 Jahre nach seiner Gründung, wie unerreicht gut schottisches Wildgeflügel (Grouse! Schnepfe!!) schmeckt – und wie sehr es lohnt, ganz einfache Rezepte mit echter Hingabe zu verwirklichen.

Und dann kam Jamie

Von der Erfindung des weltweit meistverzehrten Essens überhaupt – des Sandwiches – war hier noch gar nicht die Rede, von der unerschütterlichen Herrlichkeit eines echten English Breakfast with all the fixtures ebenso wenig. Und auch die weltweit begehrten Saucen von Worcester über Piccalilli bis zu Gentleman’s Relish, mit denen die Briten ihr oft unterwürztes Essen mit Geschmack aufzuladen wissen, müssen sich mit Kurznennungen zufriedengeben. Denn es muss noch jemand für Standing Ovations vor den Vorhang gebeten werden: Ladies and Gentlemen, Mr Jamie Oliver! Manche seiner Kreationen mögen vielleicht durch abenteuerliches Vermanschen sehr vieler Aromen befremden. Auch sein Hang, jedes Essen vor dem Servieren mit seinen Wurstfingern anzufassen, ist nicht State of the Art. Aber dass er es mit Begeisterung, Kommunikationsgabe und schierer Lust ­am guten Essen geschafft hat, ganze Generationen kochfauler Youngsters (darunter ganz viele Männer) dazu zu bewegen, sich wieder an den Herd zu wagen, ist eine echte Jahrhundertleistung. Wobei: Dass er zum Schweinsbraten gebratene Pfirsiche empfiehlt, ist auf so kranke Art britisch, dass man sich nur wundern kann.


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Erschienen in
Falstaff Nr. 01/2020

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Severin Corti
Severin Corti
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