Arty Weekend: Venedig
Sechs monumentale Händepaare schließen sich über dem Basin des Arsenale: Die Installation »Building Bridges« von Lorenzo Quinn ist ein Symbol für Gemeinschaftund menschliches Streben.
© Lorenzo Quinn

Sechs monumentale Händepaare schließen sich über dem Basin des Arsenale: Die Installation »Building Bridges« von Lorenzo Quinn ist ein Symbol für Gemeinschaftund menschliches Streben.
© Lorenzo Quinn
Für ein Kunst-Wochenende in Venedig die besten Museen auswählen? Das ist eigentlich ein Sakrileg. Man reduziert ja auch nicht den Louvre auf eine Handvoll Kunstwerke. Ganz Venedig ist Gesamtkunstwerk und Museum in einem. In den Ruhmeshallen der Kulturgeschichte steht für Venedig ein eigener Prunksaal bereit. Für Prunk, der nie lupenrein ist, sondern von melancholischer Patina. Das Schöne und das Morbide liegen hier so nah beieinander, dass sie eine Schnittmenge bilden. Eine Stadt als Museum: Das birgt auch die Gefahr, dass die Gegenwart in der Masse von Touristen und Sightseeing verschwindet. Kein Wunder, dass ausgerechnet Venedig begonnen hat, Eintritt zu verlangen. Doch gibt es in der Lagunenstadt einen Anker des Zeitgenössischen, der die komplette Musealisierung verhindert: Die Biennale, die sich im Jahresturnus abwechselnd der Kunst und der Architektur widmet, bringt frischen Wind in die Kanäle. Dann werden die Pavillons in den Giardini und die Hallen des Arsenale zum globalen Treffpunkt der Szene, dann wird Venedig zum Nabel der Welt von heute.
Donnerstag
Ein Tag auf der Kunst-Biennale: die Highlights, die Überraschungen und die einzigartige Atmosphäre zwischen den Pavillons der Giardini und den Hallen des Arsenale.
Ein umfassender Besuch der Biennale nimmt eigentlich ein ganzes Wochenende in Anspruch, davon ein ganzer Tag allein die Nationen-Pavillons in den Giardini. Doch mit einer Kombination aus Vorbereitung und Spontaneität lässt sich die Kunst-Schau auch an einem Tag bewältigen, und das Grün zwischen den Pavillons hilft beim Luftholen. Der »Goldene Löwe« ging dieses Jahr an den litauischen Pavillon und die Oper »Sun & Sea« (Marina), für die das Künstlerkollektiv Neon Realism in einer Halle des Arsenale einen Strand inszenierte und Themen wie den Klimawandel visuell umsetzte. Hier verschwimmen die Grenzen zwischen Performance und Theaterstück auf unterhaltsam-pointierte Weise.
Sinnlich-Abstrakt
Auch Belgien setzt auf Performatives, hier sind es allerdings mechanische Puppen in historischen Kostümen, die immer dieselben Bewegungen wiederholen, während in einem anderen Teil des Pavillons wilde Zombies genau das Gegenteil tun – ein anthropologischer Zoo voller Spannung. Ganz anders, nämlich sinnlich-abstrakt, präsentiert sich Hrafnhildur Arnardóttirs farbenfrohe textile Installation im isländischen Pavillon. Österreich zeigt mit Renate Bertlmann erstmals die Solo-Show einer Künstlerin. Der Titel »Discordo Ergo Sum« (Ich widerspreche, also bin ich) ist eine Variation ihres Mottos »Amo Ergo Sum« (Ich liebe, also bin ich) – Letzteres prangt selbstbewusst in riesiger Schreibschrift auf dem Josef-Hoffmann-Pavillon. In dessen Innenhof arrangierte Bertlmann 312 auf Bajonette gespießte Rosen, die, ergänzt um Skizzen, Zeichnungen und Fotos, einen Einblick in ihre Denk- und Arbeitsweise geben, die mit feministischen Performances in den 70er-Jahren begann und auch heute noch zu provozieren weiß.
Weitere Must-sees: Den »Goldenen Löwen« unter den Künstlern gewann in diesem Jahr der Amerikaner Arthur Jafa für sein beunruhigendes Video »The White Album«, das sich der Rassenproblematik in seinem Heimatland widmet. Als weitere Highlights gelten die nigerianisch-belgische Künstlerin Otobong Nkanga mit ihrer Kombination aus Malerei und Skulptur und das chinesische Paar Sun Yuan und Peng Yu mit einer Installation, die einen Roboter poetisch mit Materialien und Aggregatzuständen spielen lässt. Der »Silberne Löwe« für Nachwuchskünstler ging an die Zypriotin Haris Epaminonda und ihr meditativ-assoziatives Video »Chimera«.
Hand in Hand
Wie jedes Jahr ist die Biennale auch außerhalb der Mauern der eigentlichen Ausstellungshallen in der Stadt präsent, mal in versteckten Palazzi, mal im öffentlichen Raum. Nicht zu übersehen dieses Jahr: die 15 Meter hohe Installation »Building Bridges« von Lorenzo Quinn, sechs mal zwei Arme, die sich über einen Kanal hinweg die Hände reichen.
Dies ist nur einer von vielen Wegen durch die Biennale. Sie kennt keine Pflicht-Route, man darf sich auch treiben lassen, Unerwartetes entdecken oder sich einfach eine Weile hinsetzen und die Leute beobachten, denn für People-Watching gibt es kaum einen besseren Ort als dieses Fest der Kunst.
Freitag
Drei Palazzi voller Kunst: von Tintoretto über Jackson Pollock bis zu zeitgenössischen Experimenten und Venedigs neuestem Kunst-Ort.
Von der Gegenwart in die Vergangenheit, vom östlichen Rand des Archipels ins Herz von Venedig: Pracht und Melancholie sind auch mit und in der Geschichte des Ca’ Rezzonico eng verschlungen. Begonnen 1662, wurde der Palazzo direkt am Canal Grande zur ewigen Baustelle, bis er knapp 100 Jahre später vollendet wurde. Seit 1935 beherbergt er das Museum für venezianische Kunst des 18. Jahrhunderts, darunter Werke von Canaletto und Tintoretto. In Kombination mit den barocken Räumen und ihren Trompe-l’oeils ergibt sich so eine komplett immersive Zeitreise.
Ein Spaziergang durch die labyrinthischen Gassen parallel zum Canal Grande führt uns zu einem weiteren Kunst-Palast: Der Palazzo Venier dei Leoni war 30 Jahre lang das Zuhause der Sammlerin Peggy Guggenheim, nach ihrem Tod 1979 wurde er zum Museum. Ihre Sammlung gilt als eine der besten der modernen Kunst des 20. Jahrhunderts – mit Namen wie Dalí, Miró, Picasso, de Chirico, Ernst, Mondrian und Pollock. Das Museum selbst mit seiner Mischung aus 17.-Jahrhundert-Architektur, weißem Stein und Gärten bildet den idealen Hintergrund dafür.
Neue Zugänge
Der neueste Zugang im venezianischen Palazzo-Kunst-Paarlauf findet sich am Canal de la Giudecca. Seit 2017 zeigt hier die in Moskau gegründete V-A-C Foundation zeitgenössische Kunst. Aber nicht nur das: Man will mehr sein als eine Filiale, sich intensiv vor Ort verankern. 2018 eröffnete im Palazzo das Restaurant »sudest 1401« und dahinter der öffentliche Garten Laguna Viva, den das Londoner Architektur-Kollektiv Assemble gestaltete.
Samstag
Weites Wasser-Panorama und schattiges Gassenlabyrinth: eine Tour zu prominenten und versteckten Kunst-Orten um den Canal Grande.
Unsere Tour durch die Palazzi ist noch lange nicht zu Ende. Weiter den Canal Grande aufwärts, im Ca’ Corner della Regina aus dem Jahr 1728, hat sich 2011 eine Zweigstelle der Fondazione Prada etabliert, die hier nicht nur – oft großformatige – Kunst mit einer Vorliebe für Video und Multimedia ausstellt, sondern auch das Gebäude selbst wieder instand setzt. Anfang 2019 wurde dabei sogar ein vergessenes Fresko wiederentdeckt. Kunst, Architektur und Stadt sind hier, wie so oft in Venedig, Teil desselben Organismus – mit mehr Schichten als ein Blätterteig-Dolce.
Industrielles Interieur
Zweifellos eine der prominentesten Stellen der Stadt ist die Landspitze Punta della Dogana, an der der Canal Grande in die Lagune mündet und von der sich ein Panorama vom Markusplatz bis zur Giudecca bietet, das den Ruhm der einstigen Republik Venedig spüren lässt. Der Komplex der ehemaligen Lagerhallen des Zolls wurde 2009 von Architekt Tadao Ando sorgfältig restauriert. Hier zeigt seitdem derPalazzo Grassi Wechselausstellungen mit zeitgenössischer Kunst, die im luftigen industriellen Interieur besonders aufblüht.
Ein Kollektiv, das sich ebenfalls dem Aufblühen der Kunst widmet, nennt sich Venice Art Factory. Hier haben sich erfahrene Kunstmacher und Kuratorinnen zusammengefunden, die an wechselnden Orten in der Stadt Ideen, Personen und Räume vernetzen, oft in Kooperation mit der Biennale. 2019 hat man so die Möglichkeit, im Palazzo Querini die Werke von Mark Rothko zu sehen. Eine Gelegenheit, die man sich nicht entgehen lassen sollte.
Sonntag
Auf Schatzsuche in der Serenissima: Leonardo da Vincis Ur-Formel des Menschen, italienische Kunst von heute und eine spezielle Sammlung.
Die Biennale lässt uns nicht ganz los, denn heute geht es zurück zu ihren Anfängen: Die erste Biennale fand 1895 statt, und schon 1898 hatte die moderne Kunst in der Stadt Fuß gefasst, also lange bevor sich die klassische Moderne überhaupt etablierte. In jenem Jahr stiftete die Gräfin Felicita Bevilacqua La Masa den Palazzo Ca’ Pesaro an die Stadt, die dort 1902 ihre Sammlung moderner Kunst unterbrachte. Bald darauf entwickelte sich der Ca’ Pesaro zum Nabel junger italienischer Kunst – und ist das bis heute geblieben.
Doch italienische Kunst wird in Venedig nicht nur ausgestellt, sondern seit jeher auch produziert. Mit der im Jahr 1750 gegründeten Accademia di Belle Arti di Venezia war eine
bedeutende Kunsthochschule in der Stadt präsent, schon 1817 eröffnete sie eine eigene Galerie. Die Gallerie dell’Accademia besteht bis heute und bietet wahre Schätze der venezianischen Malerei. Das wohl berühmteste Werk ist Leonardo da Vincis Zeichnung des vitruvianischen Menschen, quasi die Ur-Formel der menschlichen Proportionen in Kunst, Wissenschaft und Philosophie.
Palazzo Finale
Wir beschließen das Wochenende in – wo sonst – einem Palazzo. Jener mit dem Namen Grassi war einer der letzten aus der Ära der großen Paläste am Canal Grande; und nach vielen Besitzerwechseln wurde auch dieser zu einem Ort der Kunst. Wie die Punta della Dogana wurde auch der Palazzo Grassi von Tadao Ando restauriert. Die 40 Räume zeigen neben der Kunstsammlung des Besitzers, des Industriellen François Pinault, jeweils eine große Wechselausstellung. Zum Abschluss wartet direkt davor das schwankende Vaporetto an der Station San Samuele für eine letzte Fahrt entlang der Parade der Palazzi am Canal Grande und dem immer wieder surreal-traumhaften Gesamtkunstwerk der Serenissima.