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Wenn der Süden ruft

Für die Menschen Europas, deren Lebensmittelpunkt nördlich der Alpen liegt, ist »der Süden« seit Jahrhunderten eine Metapher für alles, was das Leben schöner, leichter, angenehmer und geschmackvoller macht. Erst im Süden, so die Vorstellung, könne sich ein Leben erfüllen.

Ein heller Schimmer am Horizont lockt seit Jahrhunderten die Menschen von nördlich der Alpen mit einem verführerischen Versprechen: den Freuden des Südens. »Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn / Im dunklen Laub die Goldorangen glühn«, schwärmte einer der berühmtesten Italien-Reisenden, Johann Wolfgang von Goethe, in romantischer Vorahnung bereits Jahre bevor er tatsächlich zu seinen großen Tour aufbrach.

Die kollektive Sehnsucht nach dem Süden beherrscht den Kontinent bis heute ungebrochen. Dort, vermuten Menschen aus nördlichen Gefilden intuitiv, sei das Leben einfach lebenswerter, die Sonne wärmer und heller, die Kulinarik schmackhafter und raffinierter, das Lieben erotischer, die Musik melodiöser, die Sinneseindrücke intensiver, das Schöne schöner, kurz: alle Freuden des Lebens ungetrübter. Gewiss, vieles sind Klischees – aber Klischees, die sich doch häufig zu bewahrheiten scheinen. Man könnte beinahe meinen, dass dieses Gefühl genetisch programmiert ist. Denn seltsamerweise teilen auch die Südländer bis heute diese Sehnsucht.

Das Sehnen durchzieht die europäische Geschichte zumindest seit dem Untergang des Römischen Reiches. Bereits in den ­finsteren Jahrhunderten des Mittelalters wächst der Süden, und insbesondere Italien, langsam zu einer gewaltigen Metapher ­heran, die für die Leichtigkeit des Seins steht. Erst im Süden, so empfinden es viele hinter den rauen Alpenpässen, könne sich ein Leben erfüllen, könne man in einen ­beinahe paradiesischen Zustand eintreten.

Der Süden, den wir meinen

Denn zunächst befindet sich dort der Mittelpunkt der Christenheit, die bis hin zum Zeitalter der Aufklärung die europäische Geschichte bestimmt. Kaiser, Bischöfe, Adelige und auch einfache Mönche pilgern dorthin, um Erleuchtung zu finden und Gottes Segen zu empfangen. Das schreibt sich tief ins kollektive Bewusstsein der Menschen ein und verwandelt sich mit der Zeit zu einem Heilsversprechen. Doch zunächst bleibt das der adeligen Elite vorbehalten, die sich die Unternehmung einer Italien-Reise auch leisten kann. Die sogenannte »Grand Tour« zu den klassischen Altertümern und stupenden Schöpfungen der Renaissance zählt bereits ab Mitte des 18. Jahrhundert zum Pflichtprogramm für die aristokratische Jugend in Rest-Europa.

Bürgern oder gar Bauern sind diese Entdeckungen noch verwehrt. Einer der wenigen, die das Abenteuer wagen, ist der sächsische Hofbeamte Gottfried Seume. 1801 bricht er zu seiner Reise von Leipzig in das sizilianischen Syrakus auf und bewältigt die rund 6000 Kilometer lange Strecke hin und zurück, nur mit einem Schnappsack ausgerüstet, zu Fuß. Sein Bericht »Spaziergang nach Syrakus« wird in den folgenden Jahren zum Vademecum aller Italien-Reisenden. Seine Beobachtungen von Land und Leuten aus nächster Nähe befeuern die Fantasien der Daheimgebliebenen und entfesseln erneut ein – zumindest geistiges – Reisefieber.

Der Süden, so könnte man meinen, ist inzwischen längst ein kontinentales Einigungsversprechen, das vielleicht sogar stärker wirkt und tiefer verankert ist als jedes politische Europa-Projekt.

Das ändert sich abrupt, nachdem der englische Baptistenprediger Thomas Cook Mitte des 19. Jahrhunderts die Pauschalreise und den Massentourismus erfindet. Bald erschließen Bahntrassen den Süden und machen ihn zugänglicher. In Österreich beispielsweise verbindet die k. u. k. Südbahn, die erste Gebirgsbahn des Kontinents, die Residenzstadt Wien mit dem dalmatinischen Küstenland und die verschlafenen Fischerdörfer erblühen zu luxuriösen Badeorten, die wohlhabende Bürger aus der gesamten Monarchie anziehen. Das Städtchen Opatija an der Kvarnerbucht (das vormalige Abbazia) verwandelt sich etwa zu einem Zentrum des mondänen Tourismus, dessen prachtvolle Gründerzeitbauten bis heute an das vornehme Treiben von anno dazumal gemahnen. Die Perle der k. u. k. Riviera ist allerdings die Istrien vorgelagerte Insel-gruppe Brioni, die der Wiener Industrielle Paul Kupelwieser zu einem Tummelplatz der europäischen Hocharistokratie ausbauen lässt. Nach 1945 wird hier der jugoslawische Staatschef Tito eine seiner bevorzugten Residenzen beziehen.

Es scheint, dass mit dem Beginn des Reise-booms im Zuge der Wirtschaftswunderjahre nach dem Zweiten Weltkrieg jede Nation ihr bevorzugtes südliches Refugium findet. Die Österreicher zieht es an die Adria, die Deutschen nach Italien und später auf Mallorca, Franzosen und Engländer an die Cote d’Azur. Vormals weltabgewandte Küstenstädtchen wie Saint-Tropez oder das ligurische Portofino werden fast über Nacht zu Spielwiesen des Jetset, unter den sich Pauschaltouristen mischen, die den ausgestellten Luxus und die Millionärsyachten in den Hafenbecken bestaunen. Aber egal, wie viel am Bankkonto liegt, die Faszination des Südens hat sie alle im Griff.

Die Sehnsucht nach Sommer, Sonne und Meer hat letztlich auch die kulinarische Landschaft Europas umgeackert. Schließlich will auch der Nordeuropäer von den Verlockungen des Südens naschen, und sei es auch nur beim Abendessen. Pizza, Pasta und Paella haben sich als fester Bestandteil der gesamteuropäischen Volksküche eingenistet. Der Süden, so könnte man meinen, ist inzwischen längst ein kontinentales Einigungsversprechen, das vielleicht sogar stärker wirkt und tiefer verankert ist als jedes politische Europa-Projekt.


Erschienen in
Falstaff Nr. 05/2022

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Joachim Riedl
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