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Wein aus dem Knast

Wein entsteht nicht immer aus freien Stücken. In verschiedenen Haftanstalten auf der Welt wird mithilfe der Insassen Wein angebaut. Diese Knastweine sind besser als ihr Ruf.

Gorgona ist die kleinste Insel des Toskanischen Archipels vor der italienischen Küste. Sie ist 2,15 Kilometer lang, 1,65 Kilometer breit und an der höchsten Stelle 254 Meter hoch. Das Gelände ist bergig und das streng geschützte Reservat überwachsen mit der herrlich duftenden, typisch mediterranen Macchia. Gorgona ist ein kleines Paradies. Weniger als 300 Menschen leben auf der Insel, jedoch nur etwas mehr als die Hälfte davon wirklich freiwillig. Gorgona ist die letzte verbliebene Gefängnisinsel Europas.
Es war im Jahr 2012, als Lamberto Frescobaldi von der gleichnamigen toskanischen Winzerdynastie eine Partnerschaft mit der italienischen Regierung einging, um auf dem Eiland mithilfe der Häftlinge Wein anzubauen. Was im ersten Moment nach Zwangsarbeit klingt, liegt eigentlich auf der Hand: Die Bewohner von Gorgona – die Gefängnisinsassen eingeschlossen – sind schon lange Selbstversorger. In Sachen Tierzucht, Fischerei, Landwirtschaft, aber auch im Bauwesen. Probleme bereiteten Lamberto Frescobaldi vor allem die Regeln in einem Gefängnis, die dem Qualitätsweinbau zunächst nicht unbedingt dienlich waren. Im Jahr 2015 besuchte er die Insel und entdeckte einige Reben, die von Mehltau befallen waren. »Ich wusste, dass wir am anderen Morgen bei Sonnenaufgang die Kulturen behandeln mussten – zum kältestmöglichen Zeitpunkt«, sagt er. Der für den Weinbau verantwortliche Insasse sagte ihm allerdings, dass das nicht ginge. »Warum?«, wollte Frescobaldi wissen, und der Insasse antwortete, dass er und seine Kollegen bei Sonnenaufgang noch eingesperrt seien. Frescobaldi klärte die Geschichte mit den verantwortlichen Aufsehern. Mit Erfolg! Die Wärter ließen die Zellen an dem Abend offen stehen, damit die Arbeiter frühmorgens mit dem Traktor losfahren konnten. Angst vor einem Ausbruch hatten die Wärter nicht. Gorgona liegt 35 Kilometer vom Festland entfernt, so weit schwimmt niemand.

Gorgona vor der toskanischen Küste ist die letzte Gefängnisinsel Europas. Besucher werden bei Einlauf in den Hafen von Polizeibooten eskortiert.
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Gorgona vor der toskanischen Küste ist die letzte Gefängnisinsel Europas. Besucher werden bei Einlauf in den Hafen von Polizeibooten eskortiert.

Weinbergsarbeiter mit guter Führung

Wer sich auf Gorgona aufhält, sitzt in einem Boot mit allen anderen, die hier sind. Angefahren werden kann die Insel nämlich nur bei bestem Wetter und stiller See. Während dies den Häftlingen meist egal ist, kann es für die Wärter schon zur Zerreißprobe werden, wenn ihre Wachablösung auf dem Festland wartet und sie nicht wegkommen. Bei den Häftlingen ist Gorgona beliebt, viele bewerben sich, um ihre Haft hier und nicht in den überfüllten Gefängnissen auf dem italienischen Festland absitzen zu dürfen. Nur wenigen ist das vorbehalten, freilich Insassen mit guter Führung, meist solche, die am Ende ihrer Haftstrafe stehen. Der Wein dürfte durchaus auch dazu beigetragen haben, dass Gorgona beliebt ist – gerade auch bei Tagesbesuchern, die auf der Insel immer häufiger anzutreffen sind. Drei Gruppen zu je 25 Personen dürfen Gorgona gleichzeitig besuchen, alle werden dabei von den Carabinieri streng kontrolliert und von den Touristenführern nicht aus den Augen gelassen.
Die weiße Cuvée aus Vermentino und der autochthonen Sorte Ansonica ist hochdotiert und mit knapp 100 Euro Flaschenpreis ebenso kalkuliert. Mittlerweile wird auch ein Rotwein produziert. Der Wein steht bei Frescobaldis Engagement auf Gorgona natürlich im Zentrum, genauso wichtig ist aber die integrierende, soziale Funktion von Arbeit in Haftanstalten. 18 der 95 Häftlinge auf Gorgona arbeiten eng am Weinprojekt mit. »Für viele ist der Gefangenenlohn, den sie für die Arbeit in den Rebbergen erhalten, ihr erstes ehrlich verdientes Geld«, sagt Lamberto Frescobaldi.
Familie Frescobaldi sorgte mit ihrem Engagement auf Gorgona dafür, dass Wein zu einem wichtigen Wirtschaftszweig für die Insel Gorgona wurde, doch Wein aus Haftanstalten gibt es schon länger. Das portugiesische Gefängnis Alcoentre beispielsweise betreibt seit dem Jahr 1944 Weinbau. Nordöstlich von Lissabon hat die Haftanstalt 27 Hektar im Ertrag. Die Weine aus der Region Ribatejo werden allerdings unter eigener Marke angeboten. Chão de Urze heißt die Weinlinie. Die Haftanstalt Alcoentre produziert ihre Weine mit traditionellen, handwerklichen Methoden, was nur Dank der niedrigen Lohnkosten der Gefängnisinsassen möglich ist. Diese kriegen aber auch etwas zurück. Das Know-how, das sie sich als Arbeiter im Gefängnisweingut aneignen, hilft ihnen nach der Entlassung, Arbeit zu finden.

Naturwein aus dem Knast

Die Vorbereitung der Insassen auf die Zukunft in Freiheit und vor allem das Anbieten von Ausbildungsmöglichkeiten steht auch beim Weinbau des Ostschweizer Massnahmenzentrums Kalchrain im Zen­trum. Jörg Strauss ist gelernter Winzer und betreut den Weinbau-Bereich seit Anfang 2018. Sein Vorgänger Beat Thommen machte Kalchrain unter einigen Weinfreaks bekannt – einerseits mit erstklassigen klassischen Weinen, andererseits mit Naturweinen aus Amphoren. Es sei manchmal schon nicht einfach, mit Leuten zu arbeiten, die nicht ganz freiwillig im Rebberg stünden, sagt Jörg Strauss im Gespräch mit Falstaff.
»Wir haben nicht den Verkaufsdruck wie viele andere Weingüter und können uns voll und ganz der Qualität verschreiben. Im Vordergrund steht aber jedenfalls der soziale Aspekt.« Kalchrain ist ein offener Vollzug. Die Insassen arbeiten also tagsüber und kehren abends ins Massnahmenzen­trum zurück. Neben dem Weinbau gibt es einen Bereich zur Eignungsabklärung, eine Schreinerei, eine Schlosserei, eine Gärtnerei und auch eine Autowerkstatt. Die Autowerkstatt sei natürlich bei vielen beliebter als der Rebberg, doch immer wieder finden sich auch »Jungs, die gerne mitanpacken«, sagt Strauss. Wer sich besonders bewährt, hat auf Kalchrain sogar die Möglichkeit während des Vollzugs eine Ausbildung zum Winzer zu absolvieren. »Das ist das Ziel – lange nicht alle erreichen es«, so Jörg Strauss.
Auf Kalchrain wurden lange Jahre nur Trauben produziert. Die klassischen Weine werden bis heute im ehemaligen Kartäuserkloster Kartause Ittingen vinifiziert und ausgebaut. Dieses befindet sich wenige Autominuten vom Massnahmenzentrum Kalchrain entfernt, dennoch ist ein Einblick in die Produktion den Insassen nicht möglich. »Der Tagesablauf ist streng strukturiert. Auch wenn wir uns mit einem schönen Thema beschäftigen – was unsere Leute hier machen, ist und bleibt ein Vollzug», sagt Jörg Strauss. Sein Vorgänger Beat Thommen hat sich darum etwas einfallen lassen. Seit einigen Jahren wird ein Teil der Trauben direkt im Massnahmenzentrum verarbeitet, und da keine großartige Kellertechnik angeschafft werden konnte, begann Thommen, Trauben spontan in Amphoren zu vergären. »Die Leute, die hier arbeiten, sollten sehen, wie Wein entsteht«, erklärt Strauss, und das soll weiterhin so bleiben. Im Jahr 2018 hat er zwei Amphoren à 300 Liter mit Pinot-Noir-Trauben befüllt. Strauss selber ist ein klassischer Winzer und steht dem naturnahen Ansatz eher kritisch gegenüber. Doch gerade rote Amphorenweine mag er mittlerweile sehr. Und auch dem Namen Kalchrain war die Idee zuträglich – einschlägige Restaurants und Bars in der Region fanden an den Naturweinen schon Gefallen.
Wein aus dem Knast hat in den letzten Jahren auch in anderer Form für Schlagzeilen gesorgt: Häftlinge in US-Gefängnissen vergären ihre Essensrationen – Früchte wie Äpfel, Orangen und sogar Brot – zu sogenanntem Pruno. Alkohol ist in Gefängnissen ein ebenso gefragtes wie gefährliches Gut. Auch wenn man auf Kalchrain und auf der Gefängnisinsel Gorgona Wein produziert, kosten können ihn die Insassen nicht. Nur wer eine Lehre auf Kalchrain absolviert, darf kosten und muss dabei strikt ausspucken. Strauss behält sich sogar vor, den Alkoholgehalt im Blut mit einem Atemtest zu kontrollieren. Das Trinken der Knastweine ist den Kunden in Freiheit vorbehalten.

Erschienen in
Falstaff Nr. 02/2019

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Benjamin Herzog
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