Im Rheingau (hier: Rüdesheim) genießen die am Fluss ­liegenden Weinberge Südlage.

Im Rheingau (hier: Rüdesheim) genießen die am Fluss ­liegenden Weinberge Südlage.
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Wein am Rhein: Europas Hauptschlagader

Der Rhein entspringt in der Schweiz und fließt über Liechtenstein und Vorarlberg nach Deutschland. Die Winzer nützen jeden Flecken, um an Europas Hauptschlagader Rheinwein anzubauen.

Wenn Gian-Battista von Tscharner vor die Tore seines Schlosses Reichenau tritt, dann steht er praktisch direkt am Geburtsort des Rheins: Auf der Rheinbrücke, wenige Meter vom Schloss entfernt, sieht man von Westen her den Vorderrhein aus der Gegend des Sankt Gotthard heranfließen, von Süden aus der Region des San Bernardino den Hinterrhein. Kurz vor der Brücke vereinen sich die beiden Ur-Rheine zu jenem Strom, der auf den folgenden 1200 Kilometern zu einer Hauptschlagader Europas wird – und nicht zuletzt auch zu einer der europäischen Weinkultur.
In den Kellern von Schloss Reichenau wird eines der beiden Grundthemen des Rheinweins zum ersten Mal gespielt: Denn Gian-Battista von Tscharner und sein Sohn Johann-Baptista sind vor allem bekannt für Pinot Noir von hoher Noblesse und Stoffigkeit. Die Burgunder, die sie von ihren Weinbergen in Graubündens Hauptstadt Chur und im weiter nördlich gelegenen Jenins keltern, sind starke Charaktere. Keine lieblichen Rheinweine, sondern gemacht für ein jahre-, wenn nicht jahrzehntelanges Flaschenlager.
Es wird noch ein paar Flusskilometer dauern, bis das zweite Rheinweinmotiv, dasjenige des Rieslings, zum ersten Mal ertönt. Bei Fläsch, etwa 30 Kilometer näher an der Mündung des Rheins in den Bodensee, pflegen Martha und Daniel Gantenbein eine kleine Rieslinganlage. Doch der Riesling ist an diesem Flussabschnitt ein Exot. Die Burgundertraube hingegen ist fürs Rheintal des Kantons Graubünden so wesentlich, dass sich eine Winzergruppe sogar unter dem Begriff »Pinot Rhein« zusammengefunden hat. Aus ihren Weinbergen in Malans, Maienfeld und Fläsch keltern die Betriebe Liesch, Lampert und Adank ihre Trauben gemeinsam – für einen Burgunder, der den Geist der ersten Rhein-Etappe einfängt: mit Frucht und Tiefe – und mit einer Mischung aus alpiner Kühle und naturgegebener Großzügigkeit.

Bodensee und Hochrhein

Zwischen Bregenz und Sankt Margrethen mündet der Rhein in den Bodensee, nachdem er zuvor an den Weinbergen des Fürs­tentums Liechtenstein, an einigen Vorarlberger Wein-Exklaven sowie an den Sankt Galler Weinbergen bei Au vorübergeflossen ist. Bei Stein am Rhein mit seinen malerischen Rebbergen verlässt der Rhein den See wieder, um bald schon als eigenwilliger Mäander den Verlauf der deutsch-schweizerischen Landesgrenze durcheinanderzuwirbeln. An diesem Flussabschnitt führt der kürzeste Weg aus dem Kanton Schaffhausen in den Kanton Zürich über deutsches Staatsgebiet. Auch sonst ist die Grenze durchlässig: So keltert die Schaffhausische Gemeinde Diessenhofen ihren Stadtwein von den exzellent gelegenen Südhängen im deutschen Gailingen vis-à-vis – ein aus napoleonischer Zeit stammendes Gewohnheitsrecht macht es möglich.
Typische Hochrhein-Weine kommen aus ebendiesem Gailingen mit seinem idyllischen Schloss Rheinburg und weiter aus Nack (Weingut Clauß) und Hohentengen (Engelhof) auf der deutschen Seite des Schlagbaums, aus Flurlingen (unweit des Rheinfalls), Rheinau und Eglisau am Schweizer Ufer. Auch hier dominieren die Burgunder. Und die Winzer haben auch abseits des Rebbaus eine intensive Beziehung zu ihrem Gewässer: So war Urs Pircher, der stille Winzerstar aus Eglisau, in seiner Jugend ein erfolgreicher Ruderer und nahm sogar an einer Weltmeisterschaft teil.

Vom Dreiländereck bis zur Ortenau

Am Rheinknie bei Basel beginnt der Oberrheingraben, dessen Absenkung vor etwa 50 Millionen Jahren Schwarzwald und Odenwald auf der einen Seite, Vogesen und Pfälzer Wald auf der anderen emporgehoben hat. Für den Weinbau bietet das milde Klima des Oberrheingrabens besonders förderliche Bedingungen: Wärme, Regenschatten und mineralische Böden an den Kanten des Grabenbruchs bilden einen Dreiklang, der die besten Weinbergslagen des Elsass sowie der badischen Anbaugebiete Markgräflerland, Breisgau und Ortenau bestimmt. Zudem schieben sich ganz im Süden, bei Basel, Weil und Efringen-Kirchen, Ausläufer des Juragebirges in den Rheingraben, was die kalkreiche Gegend abermals zu einem Burgunder-Dorado macht.
Weiter im Norden beginnt dann nach und nach das Regiment des Rieslings, wobei sich der König der Weißweine auf der deutschen Seite des Rheins viel Zeit bis zu seinem Auftreten lässt: Erst bei Offenburg, in der Ortenau, nimmt der Riesling jene dominante Stellung ein, die er bis zum nördlichen Ende des Weinbaus am Rhein nicht mehr aus der Hand geben wird. Im Elsass hingegen schlägt er schon ganz im Süden bei Thann seine Pflöcke ein. Gegenüber, am anderen Rheinufer im deutschen Markgräflerland, dominiert im vom Schwarzwald beeinflussten, etwas feuchteren und kühleren Klima der Gutedel. Und wo Global Warming ausnahmsweise wohltuend spürbar wird, setzen die Winzer eher auf Burgunder als auf Riesling.
Ein einheitliches Merkmal des Weinbaus zwischen Basel, Straßburg und Karlsruhe wiederum ist, dass es fast nirgendwo Reben direkt am Flussufer gibt: Denn dieses verläuft hier flach, und die Schwemmlandböden in den Flussauen sind für den Rebstock in aller Regel kein sonderlich wertvolles Substrat. So gibt es im ganzen Elsass keine Reben mit Flussblick. Auch auf der badischen Seite sind sie äußerst rar. Eine Ausnahme bildet der Breisacher Eckartsberg, der durch die Vulkanaktivität des Kaiserstuhls entstand und sich direkt an den Fluss schmiegt. Auch der Kaiserstuhl selbst besitzt in der Sasbacher Lage Limburg einen solchen Vorposten. Beide Lagen sind vor allem mit Burgundern bestockt.

Rheinhessen

Ab Höhe Karlsruhe flussabwärts ist auch das linke Rheinufer deutsch – hier grüßen aus der Ferne die Weinberge der Pfalz, am rechten Ufer diejenigen der Bergstraße. Der erste nah am Fluss gelegene weinbauliche Hotspot dieses Flussabschnitts ist Worms mit dem Weinberg des Liebfrauenstift-Kirchenstücks. Der ganze Weinberg liegt auf Flusssedimenten – aber nicht auf dem üblichen Schwemmland, sondern auf einer wertvollen Vielfalt von Geröllen und Verwitterungsprodukten. Denn unweit dieser Stelle beginnt der Übergang vom Graben der Oberrheinischen Tiefebene ins Rheinische Schiefergebirge.
Da sich der Rhein seinen Weg durch den Stein erst bahnen musste, verlangsamte sich sein Fluss, und er hat in Jahrmillionen immer wieder an derselben Stelle Ballast abgeworfen. So entstand ein ganz besonderes Terroir. Der Ruhm des Liebfrauenstift-Rieslings wurde zum Vorbild der »Liebfrauenmilch«. Doch in Sachen Komplexität, Gaumenstruktur und Langlebigkeit spielt das (trocken ausgebaute) Original in einer komplett anderen Liga als die kitschige Imitation aus dem Supermarkt. Der echte Liebfrauenstift-Riesling kann sich mühelos mit den Grands Crus messen, die ein paar Kilometer weiter am Roten Hang auf »rotliegendem« Tonschiefer wachsen. Lagen wie Hipping, Pettenthal und Rothenberg und Weingüter wie Gunderloch, Kühling-Gillot, Sankt Antony, Heyl zu Herrnsheim und ein Dutzend weitere sind weltweit ein Begriff. Hier, in den Orten Oppenheim, Nierstein und Nackenheim, beginnt sich zudem auch die rheinische Hochkultur der edelsüßen Weine erstmals in voller Pracht zu zeigen: Die Trockenbeerenauslesen aus dem Nackenheimer Rothenberg, die Fritz Hasselbach vom Weingut Gunderloch in den 1990er- und 2000er-Jahren erzeugt hat, zählen zu den großen deutschen Wein-Legenden der letzten Dekaden.

Rheingau

Kurz nach dem Zufluss des Mains beginnt der Rhein seine Richtung zu ändern: Statt wie fast während seines ganzen Verlaufs von Süden nach Norden zu fließen, fließt er zwischen Wiesbaden und Bingen von Osten nach Westen. Diese geografische Konstellation hat zur Folge, dass die direkt am Fluss liegenden Weinberge nach Süden blicken. Dabei ist es genau genommen ein Zweiklang von Lagen, der den Rheingau auszeichnet: Die »Berglagen« befinden sich vom Fluss zurückversetzt in der Höhe, sie werden vom nahen Taunus gekühlt und sind in der Regel, wie der berühmte Steinberg bei Hattenheim, der Kiedricher Gräfenberg oder der Rauenthaler Nonnenberg, von gesteinsreichen Böden aus Phyllitschiefer geprägt. Die Rhein-nahen Lagen wiederum profitieren von der Wärme, die der Fluss spendet. Die berühmteste von ihnen ist die Erbacher Lage Marcobrunn, deren majestätische Rieslinge geradezu Schmelz besitzen und dennoch die stahlige Rheingau-Art nicht vermissen lassen.
Eine Besonderheit des Rheingaus stellt die Rhein-Insel Mariannenaue dar, die den Orten Erbach und Hattenheim gegenüber liegt. Hier wachsen die Reben nicht am Rhein, sondern wirklich mitten im Fluss: Auf 24 Hektar gedeihen auf der Insel vor allem Weißburgunder, Chardonnay und Sauvignon Blanc. Gekeltert werden die Weine am Festland, in den Kellern von Schloss Reinhartshausen. Das gegenüberliegende rheinhessische Rhein-Ufer übrigens ist frei von Weinbergen, allerdings liegen die Spitzenlagen Ingelheims und Bingens nur wenige Kilometer landeinwärts.
Ganz am westlichen Ende des Rheingaus befindet sich die wohl spektakulärste Lage des ganzen Gebiets: Der steil zum Rhein abfallende Rüdesheimer Berg vereint die Eigenschaften einer Berglage mit denjenigen der Flussnähe. In all seinen Teilstücken (Schlossberg, Roseneck, Rottland und Kaisersteinfels) und in jeder Geschmacksrichtung bringt dieses weinbauliche Monument Riesling von sagenhafter Mineralität und Langlebigkeit hervor. In Assmannshausen, einem Ort weiter flussabwärts, beginnt sich der Rhein wieder nach Norden und seinem Ziel Nordsee zuzuwenden. Hier erlangt der Spätburgunder so große Individualität, dass er den Riesling komplett verdrängt hat. Der Schieferboden in den Steilhängen und ein Bestand uralter Reben schaffen Burgunder-Originale von höchster Eleganz.

Mittelrhein

Der nächste Ort flussabwärts, Lorch, gehört weinrechtlich noch zum Rheingau, doch stilistisch haben die hier wachsenden Rieslinge mehr mit Bacharach oder Oberwesel gemein als mit Rüdesheim oder Hattenheim. Der Riesling des Mittelrheins hat nicht das Prestige des Rheingaus oder der Mosel, doch qualitativ steht er nicht zurück. Weingüter wie Jost und Ratzenberger, Kauer, Lanius-Knab, Weingart, diverse Zweige der Familie Lambrich oder Matthias Müller erzeugen mineralische, schieferwürzige Weine von trocken bis edelsüß.
Auch im Mittelrhein gibt es übrigens einen Insel-Weinberg: Der Winzer Friedrich Bastian pflegt zwei Hektar Riesling auf der Insel Heyles’en Werth. Da Bastian zugleich ein studierter Bariton ist, kann man auf dieser Rheininsel auch Konzerte erleben!
Mit seinen Burgen, mit der Loreley und dem Status als UNESCO-Weltkulturerbe ist dieser Flussabschnitt Inbegriff der Rhein-Romantik. Ob sich die Touristen auf den Ausflugsschiffen beim Genuss eines Bechers Rheinwein klarmachen, welch große Mühe die Handarbeit in den Steilhängen links  und rechts erfordert? Lange Zeit ging die Rebfläche am Mittelrhein stetig zurück – ein Trend, der erst in den letzten Jahren zum Stehen gekommen ist. Inzwischen werden sogar wieder die ersten Brachen rekultiviert, und es sind neue Betriebe entstanden, wie das Weingut Lithos des Deutsch-Griechen Christos Christian Theodoropoulos.
Das Anbaugebiet Mittelrhein zieht sich mit einigen Unterbrechungen, mal rechtsrheinisch, mal linksrheinisch, noch weiter bis zur Moselmündung bei Koblenz. Nördlich von Koblenz findet man nur noch sehr sporadisch Reben am einen oder anderen Steilhang, etwa bei Leutesdorf (Weingut Josten & Klein). Den Schlusspunkt setzen die Weinberge am Drachenfels bei Königswinter. Hier, bereits im Bundesland Nordrhein-Westfalen und schon vor den Toren Bonns, ist der junge Felix Pieper mit Feuereifer (und großem Erfolg) daran nachzuweisen, dass sein nördlicher Standort mitnichten ein Nachteil sein muss.

© Stefanie Hilgarth

Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2019

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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