Süßes ohne Reue

Wissenschaftlich ­betrachtet ist ein entspannter Zugang beim Verzehr von Süßspeisen durchaus erlaubt.

Zucker war im 17. und 18. Jahrhundert Lustmittel, kostbares Gewürz, ein Statussymbol der Oberschicht. Speisen wurden mit Zucker bestreut, um nach außen zu demonstrieren – seht her, ich kann es mir leisten!«, sagt Lothar Kolmer, Gastrosoph an der Universität ­Salzburg. Das hat sich deutlich gewandelt: Drehte sich der Diskurs ums Süße früher rund um Liebe, Lust und Laster, so ist er ­heute einer rund um die Gesundheit. Übergewicht und Diabetes kommen schnell zur Sprache, auch die Mär von der »Volksdroge Zucker« kursiert. Manche verzichten der ­Gesundheit zuliebe aufs Dessert. Doch Süßes macht weder dick noch krank oder süchtig.

»Es gibt keine Zuckersucht«, konstatiert Michael Musalek vom Anton Proksch Institut in Wien. Denn das Wesentliche an einem Suchtmittel ist, dass es gut und unmittelbar wirken muss, dass es uns massiv psychisch verändert. Das tun Opiate, Kokain, Tranquilizer oder Alkohol. »Mit Zucker lässt sich das nicht erreichen, weil Zucker keine derartige psychotrope Wirkung hat. Sucht ist ­immer etwas, das einem irgendwann völlig entgleitet. Und da sind wir bei Zucker weit davon entfernt.« Natürlich gibt es Menschen, die übermäßig viel Süßes essen. Aber nicht jeder erhöhte Konsum ist mit Sucht gleichzusetzen. Und: Zucker macht nicht abhängig.

Süßes galt einmal als Medizin
Auch Übergewicht folgt einem komplexen Zusammenspiel von vielen Faktoren, in ­erster Linie ist es auf die unausgewogene Bilanz von Kalorienaufnahme und -verbrauch zurückzuführen. Da spielen Genetik und Stoffwechselprogrammierung ebenso mit wie das Stresslevel, Schlafmangel, die psychische Verfassung oder der Medienkonsum, Alltagsbewegung und Sport. Dass nicht ausschließlich eine Lebensmittelkomponente für den Anstieg des Körpergewichts verantwortlich gemacht werden kann, weist eine schlichte Beobachtung der letzten zwanzig Jahre aus: So hat sich die tägliche Energiezufuhr über Getränke und Lebensmittel nicht wesentlich verändert – sie liegt stets bei rund 2000 kcal. Dagegen ist das Ausmaß an Bewegung kontinuierlich mit dem modernen Lebensstil gesunken. Süßes spielt für das Körpergewicht nur eine geringe Rolle. Das bestätigen auch Experten der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE). Sie gingen der Frage nach, ob und – wenn ja – wie sich Kohlen­hydrate generell, der gewöhnliche Haushaltszucker, Fruchtzucker oder Traubenzucker auf die Entwicklung von Fettleibigkeit, Diabetes, Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen oder Krebs auswirken. Die Ergebnisse fassten sie in einer evidenzbasierten Leitlinie zusammen. Dabei kam heraus, dass wahrscheinlich weder der Gesamtkohlenhydratanteil (Nudeln, Reis, Kartoffeln, Brot …) noch alleinig der Zuckeranteil die Entwicklung von Adipositas und Diabetes mellitus Typ 2 beeinflusst – und alle anderen chronischen Krankheiten schon gar nicht. Heiner Boeing, Epidemiologe am Deutschen Institut für Ernährungsforschung (DIfE), war an der Erstellung der Leitlinie beteiligt und betont: »Zucker macht nicht zuckerkrank!«

Man kann es sogar anders sehen: Süßes galt einmal als Medizin. Das ist lange her – dennoch: Apotheker wurden im 13. Jahrhundert »Confectionarii« genannt, weil sie Kräuter, Heilpflanzen und Gewürze mit Zucker aufkochten, um ihren Geschmack zu verbessern. Dass wir dem Süßen vertrauen, liegt in der Natur der Sache.

Schließlich sind die Muttermilch, aber auch reife Früchte süß. Die Konditionierung lautet: Was süß schmeckt, kann man essen. Nicht umsonst lächeln Babys bei Süßem und schreien bei Bitterem. Süß ist seit je ein Garant für einen ungiftigen, wohltuenden Energieschub.

Doch nicht jeder verträgt jeden Zucker. Rund 15 % haben Probleme mit Milchzucker (Laktose). Völlig auf Milch- und Milchprodukte verzichten müssen Laktoseintolerante allerdings nicht. Die meisten können eine Dosis von 12 g Laktose mit wenig oder gar keinen Symptomen verdauen. Acht von zehn Personen mit Laktoseintoleranz haben auch Schwierigkeiten, Fruchtzucker aufzunehmen. Weil Glukose den Transport von Fruchtzucker fördert, hilft es in solchen Fällen zum Beispiel, Obst mit Traubenzucker zu süßen.

Schließlich noch die Frage: Gibt es generell ein Zuviel? Die Weltgesundheitsorganisation spricht sich für eine obere Grenze von zehn Prozent der täglichen Energieaufnahme für zugesetzten Zucker aus. Das sind rund 50 Gramm Zucker am Tag, also drei Esslöffel, zehn Teelöffel oder zwölf Würfelzucker. Für eine solche Obergrenze erkennt die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) keine wissenschaftliche Grundlage. Auch die Ernährungsgesellschaften empfehlen bloß einen moderaten Umgang mit Süßem. Das gelingt den Österreichern ­sogar recht gut – denn der durchschnittliche Konsum liegt bei genau zehn Energieprozent...

HINTERGRUND: Falstaff hinterfragt Zucker-Mythen

Text von Marlies Gruber
Aus Falstaff Nr. 08/2014

Marlies Gruber
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