Rioja: Viva la Diversidad - Tradition trifft Moderne

Die Stilistik von Spaniens Nationalwein wird immer unterschiedlicher: Zu den klassischen ziegelroten, nach Leder und Trockenblumen schmeckenden Riojas gesellen sich immer öfter neue Varianten.

Der Rioja ist nicht selten Anlass für Diskussionen unter Weinkennern. Die einen hängen den immer weniger werdenden rubin- bis ziegelsteinroten Klassikern nach, die ihr charakteristisches Bouquet von Leder, Trüffeln, Trockenblumen, süßen eingelegten Früchten, ihre Vielschichtigkeit, Finesse und Langlebigkeit erst nach vielen Jahren der Reife im großen alten (amerikanischen) Eichenfass sowie auf der Flasche erlangen. Die anderen freuen sich darüber, dass auch in der Rioja inzwischen vor allem zeitgemäße Weine mit intensiver Frucht, kräftigem Tannin und noch kräftigerer Farbe erzeugt werden. Diese dunklen, konzen­trierten New-Wave-Weine werden zumeist in französischen Barriques ausgebaut und verbinden ihre klare, tiefe und reife Frucht mit typi­schen Barriquenoten wie Vanille, Mokka und Zedernholz sowie einer animierenden Fruchtsäure. Diese Sezession, wenn man den symbiotischen Antagonismus von Tradition und Avantgarde so nennen will, dauert nun schon rund zwei Dekaden und hat das konventionelle Dreigestirn der Rioja – Crianza, Reserva und Gran Reserva – mit Weinen bereichert, die nichts von alldem sind: mit sortenreinen Rioja-Weinen mit Rebsortenbezeichnung und verführerischen Fruchtaromen, spannenden Weinen aus Einzellagen oder gar einzelnen Parzellen und spektakulären Spezial-Cuvées.

In den Weingärten gibt es immer etwas zu tun, speziell im Herbst, wenn die Ernte vorbereitet wird / Foto: beigestellt

Die neuesten Rioja-Hits stammen von Palacio Remondo, der Dominio de Eguren und der Dinastía Vivanco. Ersterer versteht es wie kaum ein anderer, Weine zu erzeugen, die gekonnt reife Frucht mit Frische, Finesse und Leichtigkeit vereinen. Wer nach neuen, modernen Riojas sucht, sollte sich aber auch die auf kühlen 600 Meter Seehöhe gelegene Bodega La Emperatriz in Baños de Rioja (La Rioja) mit ihren auf Kies gewachsenen tiefroten, ultrafruchtigen Rebsorten- und Terroirweinen von jungen und ganz alten Reben oder die ganz neue Bodega Obalo bei Ábalos (La Rioja) merken. Obalo hat nicht nur einen architektonisch wie technisch spektakulären Keller, sondern auch seinen ersten Jahrgang vorgestellt. Die ganz offensichtlich aus perfektem Traubenmaterial erzeugten Weine – Obalo Joven (100.000 Flaschen), Obalo Crianza (40.000 Flaschen) und Altino (25.000 Flaschen) – sind allesamt sortenreine Tempranillos von insgesamt 180 mit alten Reben bestockten Parzellen in der Sonsierra Riojana. Es sind moderne Riojas für moderne Bordeaux-Fans: vornehm und frisch, mit perfekter Frucht und herben, straffen Tanni­nen. Sie wirken zwar gestylt und sind noch (zu) stark von den naturgemäß neuen französischen Barriques dominiert, doch es besteht kein Zweifel daran, dass insbesondere der Altino – ein konzentrierter und doch seidiger Tempranillo aus 30 ausgesuchten Parzellen mit durchschnittlich 50-jährigen Reben – in den kommenden Jahren seinen Weg in die absolute Spitzenklasse der Region finden wird. Dabei ist der exzellente 2008er Premierenjahrgang mit rund 20 Euro noch relativ erschwinglich.

Längst haben auch in ­der Rioja französische ­Barriques Einzug gehalten / Foto: beigestellt

Eher teuer sind die seit Jahren in Robert Parkers »Wine Advocate« sehr hoch bewerteten Weine der Dominio de Eguren, die unter den Markennamen Sierra Cantabria, Viñedos Sierra Cantabria, Señorio de San Vicente und Viñedos de Páganos vermarktet werden und allesamt aus eigenen Trauben erzeugt werden. Es sind enorm kraftvolle und körperreiche Weine von dunkler Farbe und intensiver Frucht, die mit massiven Tanninen in Form gehalten werden. Besonders bemerkenswert ist der Finca-Tempranillo »El Bosque« aus San Vicente de la Sonsierra, dessen Beeren manuell entrappt wurden. Kultcharakter und das Zeug zum modernen Klassiker besitzt zudem der »Amancio«, ein komplexer, intensiver und nachhaltiger Tempranillo auf Grand-Cru-Niveau, der die Tradition geschickt mit der Zukunft zu vereinen weiß.

Bei Eguren wird die Maische auf traditionelle Weise untergetaucht / Foto: beigestellt

Wiederum recht preiswert und von schon beinahe beängstigender Perfektion sind die Rotweine der Dinastía Vivanco in Briones (Rioja Alta). Ein Besuch der Bodega am Fuße der Sierra Cantabria ist schon wegen des wirklich atemberaubenden Museo de la Cultura del Vino Pflicht. Das milde Mikroklima sowie die enorm kalkreichen Böden der Rioja Alta bringen bei Vivanco Rotweine von betörender Frucht und Eleganz hervor, so schön, dass man sie, wie die Exponate im Museum, zunächst nur bestaunen möchte und sich kaum traut, sie zu trinken. Die Familie Vivanco bewirtschaftet 300 Hektar Rebfläche zwischen Briones und Haro, hauptsächlich Tempranillo, aber auch Graciano, Mazuelo, Garnacha und – ein Experiment – Cabernet Sauvignon, dazu kommen weiße Traubensorten wie Viura, weißer Garnacha und Malvasia. Der weit gereiste Rafael und sein Bruder Santiago sind bereits die vierte Generation, die sich dem Wein widmet. Rafael hat in Bordeaux Önologie studiert und auf diversen Châteaux gearbeitet. Mit ganz neuen Konzepten und Weinen bringt er die Rioja nochmals nach vorne. So zeigt er in der Serie Colección Vivanco sortenreine Rotweine von einer Klasse und Authentizität, wie wir sie in der Region bislang noch nicht verkostet haben: Parcelas de Garnacha (2007er: süß und elegant), de Mazuelo (2008er: würzig, frisch und elegant) und de Graciano (2006er: samtig, mineralisch, intensiv und nachhaltig). Auch die 2007er Colección Vivanco 4 Varietales (aus den genannten, jeweils separat vergorenen Sorten, vor allem aber Tempranillo) ist ein nobler Wein: reich und anspruchsvoll, aber gleich zu Herzen gehend. Sämtliche Weine werden nur in den für die jeweilige Sorte herausragenden Parzellen und Jahrgängen erzeugt und sind – echte Riojanos. Der Ausbau erfolgt während 14 bis 20 Monaten in neuen französischen und amerikanischen Barriques. Während bei den edlen Sortenweinen die Produktionsmengen limitiert sind, gibt es die Crianza (100 Prozent Tempranillo) und Reserva (Tempranillo mit zehn Prozent Graciano) des Hauses in deutlich höherer Auflage.

Das noch junge Weingut La Emperatriz zählt zu den Aufsteigern der Region / Foto: beigestellt

Selbst wenn man zu den traditionellen Weinen wie den Gran Reservas Viña Tondonia, Rioja Alta oder Marqués de Murrieta tendiert, muss man sich nicht fürchten, dass diese modernen Weine die Authentizität des Riojas gefährden. Vielmehr sind die sich nicht zuletzt in der avantgardistischen Kellerarchitektur äußernde Kreativität und die Aufbruchstimmung in der Region, die sich viel zu lange von ihrer eigenen Tradition hatte fesseln lassen, zu bewundern. Ist es verwerflich, wenn sich Betriebe, egal ob etabliert oder neu, mit ihren Weinen jenseits des Mainstreams und der Uniformität von Stil und Geschmack positionieren wollen? Wenn sie anstatt einer Marke plötzlich die Region, die Essenz ihrer Herkunft, ihre zahlreichen Terroirs oder auch ihre urtypischen Sorten in den Fokus rücken möchten? Und wenn sie sich dabei an den Erfordernissen des Marktes orientieren? Auch Rafael López de Heredia war einst ein Avantgardist – heute sind die Weine dieses genial altmodisch wirkenden Traditionsbetriebs selbst Klassiker (und für viele junge Produzenten weltweit auch schon wieder Avantgardisten, weil Großvaters selige Zeiten hier nie aufgehört haben, die mit viel Know-how erzeugten Weine aber dennoch besser geworden sind).

Und Roda? Auch der einstige Avantgardist darf inzwischen zu den Klassikern gezählt werden, wenn auch zu den modernen. Denn längst sind neue Betriebe und Weine auf den Plan getreten, deren Kreativität, Innovationsgeist und Qualitätsstreben die Tradition der Rioja lebendig erhalten.

Originalität statt Komplexität: Rioja am Scheideweg? - Interview mit Doug Frost, MW, MS

Zu den Verkostungsnotizen

Text von Stephan Reinhardt
Aus Falstaff Nr. 5/2011