Der Norden des Piemont ist als Weinbauregion wesentlich weniger bekannt als der Süden dieser Region – allerdings um nichts weniger spannend. 

Der Norden des Piemont ist als Weinbauregion wesentlich weniger bekannt als der Süden dieser Region – allerdings um nichts weniger spannend. 
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Nord-Piemont: Nebbiolo aus den Alpen

Gattinara, Ghemme, Bramaterra – um die drei traditionsreichen Weinbaugebiete im Nord-Piemont zeichnet sich eine Renaissance am Fuße des Monte Rosa ab.

Als »Sputanuvole«, Wolkenspeier, wird der mächtige Monte Rosa, mit über 4600 Metern zweithöchstes Bergmassiv Europas, hier bezeichnet. Der Berg spielt eine dominante Rolle in den Weinbaugebieten des Nord-Piemont, auch Alto Piemonte genannt. Denn das mächtige Massiv schützt das Gebiet vor kalten Winden aus dem Norden. Zugleich fallen in der warmen Saison immer kühle Winde von den Gletschern zu Tal, die in den Weinbaugebieten für nächtliche Abkühlung und Durchlüftung sorgen. Dem Monte Rosa haben es die Winzer zu verdanken, dass die Temperaturen im Herbst bei Tag warm und bei Nacht kühl sind und so die Aromaintensität der Trauben gesteigert wird. 

Während die Weine aus dem Süden des Piemont, Barolo und Barbaresco, weltweit hochgelobt werden, führen jene aus dem Nordpiemont ein Schattendasein. Vor 150 Jahren sah das noch ganz anders aus, da waren hier mehr als 45.000 Hektar mit Wein bepflanzt. Dann zerstörte die Reblaus dieses Rebenmeer. Ehe sich Winzer und Reben davon erholen konnten, folgten zwei Weltkriege. In der Nachkriegszeit setzte man dann mehr auf die florierende Textilindustrie, die Landwirtschaft verkam. Heute ist der Weinbau im Alto Piemonte auf wenige Hundert Hektar geschrumpft.

Die Gebiete tragen klingende Namen: Coste della Sesia, Lessona, Bramaterra, Gattinara, Ghemme, Boca, Sizzano, Fara und ganz im Norden gibt es noch die Valli Osolani. In Boca, Gattinara und Bramaterra bestehen die Böden vorwiegend aus vulkanischem Porphyr. Die Böden weiter im Westen und Osten sind aus Schwemmmaterial geformt, das die Gletscher hierher verfrachtet haben (Ghemme) oder aus verdichteten Sanden, die ehemals die Küstenlinie des großen Ozeans bildeten (Lessona). Im Unterschied zum Südpiemont mit seinen kalkhaltigen, basischen Böden sind die Böden hier von einer sauren Komponente geprägt. Das macht die Weine zwar etwas weniger breit und füllig, dafür aber sind sie tiefgründig und im Trunk salzig. Es sind süffige Weine, von denen man auch eine ganze Flasche trinken kann.

Warum aber immer wieder der Vergleich mit dem Südpiemont? Weil die dominante Sorte in beiden Anbaugebieten die gleiche ist: Nebbiolo. Das macht den Vergleich so spannend. Neben Nebbiolo, lokal auch Spanna oder Prünent genannt, können die Weine aus dem Piemonte Alto auch Anteile der lokalen Komplementärsorten Uva Rara, Vespolina und Croatina enthalten. Gattinara, Ghemme und Co sind in der Farbe meist recht hell gehalten und changieren von funkelndem, hellem Rubin bis zu Granat. In der Nase überraschen sie mit fein akzentuiertem Duft. Am Gaumen beeindruckt das kraftvolle, kernige Tannin, das den Weinen Struktur und Halt gibt. Die frische Säure macht die Weine saftig, der hohe Mineralgehalt lässt sie salzig erscheinen und verleiht ihnen langen Nachhall. 

Frischer Wind

Den Reiz des Gebietes und seiner Weine erkannt hat auch Roberto Conterno, Eigentümer von Giacomo Conterno in Monforte und damit einer der ganz Großen in Sachen Barolo. 2018 erstand er das Weingut Nervi in Gattinara. Er kaufte es von einer Gruppe norwegischer Weinliebhaber unter Führung der Familie Astrup, die Nervi ein Jahrzehnt lang aufwendig restauriert und auf Vordermann gebracht hatte. Zuvor befand sich Nervi über ein jahrhundertlang im Besitz der Gründerfamilie. Ausschlaggebend für den Kauf dürfte neben dem unbestrittenen Potenzial, welches das Gebiet hat, wohl auch der Preis der Weinberge gewesen sein, der einen Bruchteil dessen ausgemacht hat, was man in Barolo für vergleichbares Land bezahlt.

Das Engagement Roberto Conternos in Gattinara brachte auf jeden Fall frischen Wind und liess viele Weinliebhaber auf der ganzen Welt erstmals auf diese Region aufmerksam werden. Zu Nervi gehören knapp 30 Hektar Weinberge im Herzen von Gattinara. Neben dem Gattinara DOCG ohne nähere Bezeichnung erzeugt Roberto Conterno zwei Lagenweine: den Gattinara Valferana und den Gattinara Vigna Molsino, eine legendäre Einzellage mit der Form eines Amphitheaters. Die gegenwärtigen Jahrgänge 2016 und 2017 wurden noch unter den alten Eigentümern eingekeltert. Roberto Conterno war da aber bereits als externer Berater bei Nervi involviert. Was tatsächlich in den Weinen von Nervi steckt, wird man aber wohl erst in den kommenden Jahren erfahren.

Alessia, Masimo, Cinzia und Carolina Travaglini führen das gleichnamige Weingut in der inzwischen vierten bzw. fünften Generation. 
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Alessia, Masimo, Cinzia und Carolina Travaglini führen das gleichnamige Weingut in der inzwischen vierten bzw. fünften Generation. 

Der wichtigste und größte Betrieb in Gattinara ist Travaglini, der von Cinzia Travaglini in vierter Generation geführt wird. Mit Alessia und Carolina ist seit 2019 auch die fünfte Generation Travaglini aktiv im Betrieb tätig. In einem marketingtechnischen Geniestreich entwickelte Cinzias Vater, Giancarlo Travaglini, in den Fünfzigerjahren eine eigene Flasche und ließ sie patentieren. Fortan wurden alle Travaglini-Weine in diese charakteristische, leicht bauchige Flasche gefüllt. Auch wem Gattinara vielleicht nur wenig sagte, die Flasche von Travaglini prägte sich ein und wurde zum Markenzeichen. Alle drei Gattinara von Travaglini werden ausschließlich aus Nebbiolo gekeltert, so auch der Top-Wein Gattinara Riserva, der fünf Jahre reift und sich dann wunderbar vielschichtig zeigt. 

Sehr spannend sind auch die Weine von Antoniolo, ein kleiner Betrieb, der von den Geschwistern Lorella und Alberto Antoniolo geführt wird. Der Lagenwein Gatinara Osso San Grato, kernig und mineralisch, genießt unter Kennern hohes Renommee. Antoniolos zweiter Lagenwein, Gattinara San Francesco, präsentiert sich etwas geschmeidiger und fruchtiger.

Das Weingut Nervi, insbesondere die Lage Molsino, zählt zu den absoluten Top-Anbaugebieten im Nord-Piemont. 
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Das Weingut Nervi, insbesondere die Lage Molsino, zählt zu den absoluten Top-Anbaugebieten im Nord-Piemont. 

Torraccia del Piantavigna erzeugt sowohl spannende Gattinara als auch Ghemme, die sich durch den anderen Bodenaufbau geschmeidiger, weicher und schon in der Jugend zugänglich präsentieren. Das Weingut wurde 1997 von den Familien Francoli und Ponti gegründet. Während die Francolis schon seit dem 19. Jahrhundert im Spirituosengeschäft tätig sind und auch mit Wein handelten, investierte Ponti als namhafter Produzent von Essig erstmals ins Weinbusiness. Ghemme schließt östlich an Gattinara an, Bramaterra westlich.

Wie in Gattinara prägt auch in Bramaterra vulkanischer Porphyrquarzit den Boden. »I Porfidi« nennt sich denn auch der beste Bramaterra der Tenute Sella. Dieses Weingut, dessen Geschichte bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, befindet sich im Besitz der gleichnamigen Familie, die auch eines der historischen Bankhäuser Italiens leitet. Neben Weinbergen in Bramaterra zählen Lagen im Anbaugebiet Lessona zum Besitz der Tenute Sella. Während Bramaterra-Weine durch Würze und Struktur gekennzeichnet sind, zeigen sich Lessona-Weine runder und weicher.

Auf eine lange Geschichte kann auch das Weingut Centovigne verweisen. Nachdem Magda und Alessandro Ciccione das Familienschloss von Castellengo bei Biella saniert hatten, gingen sie daran, die rings ums Schloss liegenden Weingärten zu bearbeiten und selbst einzukeltern. Und wie die beiden Spitzenweine Centovigne und Castellengo zeigen, machen sie das durchaus gekonnt. Man kann mit Fug und Recht sagen: Im Alto Piemonte tut sich was! 

Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2021

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Othmar Kiem
Othmar Kiem
Chefredakteur Falstaff Italien
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