© Stine Christiansen

Muscheln: Meer Genuss

Muscheln sind einer der seltenen Glücksfälle, bei dem sowohl Genießer als auch Umwelt gut aussteigen. Wir holen uns mit ihnen das Meer nach Hause!

Das Wichtigste zuerst: Muscheln schmecken einfach umwerfend gut. Salzig und süß, wie die allerbesten Desserts, leicht jodig und zart bitter, nach Meer und Strand und prachtvollen Felsen, nach Wind und Weite, Abenteuer und Sonnenuntergang. Der fortgeschrittene Muschel-Connaisseur genießt sie roh, am besten frisch aus dem Meer gehoben oder vom Stein geschlagen – nie wird ihr Eigengeschmack stärker, tiefer, komplexer sein. Gekocht bezaubern sie mit anderen Reizen: Sie werden seidig, cremig und weich, milder und runder im Geschmack. Starke, kurze Hitze verleiht etwa Schwertmuscheln feine Raucharomen, ein wenig Wasserdampf macht Miesmuscheln erst so richtig saftig und mollig.

Proteinquelle und Umami

Dass Muscheln uns so herrlich schmecken, hat zwei einfache Gründe: Erstens gehören sie zu unseren ältesten Nahrungsquellen überhaupt. Bereits vor vielen zehntausend Jahren waren sie für unsere Vorfahren eine der wichtigsten, weil nicht davonlaufenden Proteinquellen. Mehrere Meter hohe, urzeitliche Haufen von Muschelschalen, die Archäologen regelmäßig finden, zeugen bis heute von prähistorischen Meeresfrucht-Orgien. Zweitens sind sie von Natur aus der Inbegriff von Umami – sie sind nämlich voll köstlicher Aromastoffe und Geschmacksverstärker. Um sich gegen das Salz des Meerwassers zu schützen und Energie zu speichern, lagern sie jede Menge Aminosäuren, etwa Glutamat, ein, das uns Menschen nach mehr lechzen lässt. Es gilt daher: Je salziger das Wasser, desto kräftiger schmeckt die Muschel – eine Faustregel, die Urlauber am besonders salzigen Mittelmeer nur freuen kann.

Gesund und köstlich

Küstenbewohner aller Länder wissen seit jeher um der Muschel geschmackliches Potenzial, Süditaliener versäumen es selten, ein paar »lupini«, kleine, längliche Muscheln, in ihre Suppen und Fischeintöpfe zu werfen, und die Chinesen machen aus getrockneten Jakobsmuscheln und anderem Meereszeug XO-Sauce, eine der großen Würzsaucen dieser Welt. Daneben genießen sie sie natürlich in großen Mengen gedämpft, gekocht, gebraten, gegrillt oder bloß so, mit einem Schuss Zitrone. Doch auch uns Binnenländlern würde ein erhöhter Muschel-Konsum gut stehen: Sie sind nämlich nicht nur köstlich, sondern auch höchst gesund und, besonders wichtig, die mit Abstand nachhaltigste tierische Köstlichkeit aus dem Meer. Muscheln gehören zu jenen Meeresbewohnern, die besonders viel gute Omega-3-Fettsäuren enthalten – vor allem Miesmuscheln sind voll davon, sie enthalten fast genauso viel wie der Omega-3-König Lachs. Im Gegensatz zu diesem sind sie aber sehr einfach, nachhaltig und umweltfreundlich zu züchten. So sehr, dass Muscheln-Essen aktiver Klima- und Umweltschutz sein kann und manche Wissenschaftler in ihnen die Zukunft unserer Ernährung sehen.

Beeindruckende Ökobilanz

Miesmuscheln und andere Schalentiere sind sogenannte Filtrierer: Sie ernähren sich von Plankton und winzigen Lebewesen, die sie aus dem Wasser filtern. Anders als etwa Lachs müssen sie nicht gefüttert werden, sondern holen sich all ihre Nahrung selbst. Im Gegensatz zu Fischfarmen sind Muschelzuchten nicht von Krankheiten bedroht und kommen ganz ohne Antibiotika aus. Und weil sich Muscheln ohnehin kaum bewegen und ein sehr niedrig entwickeltes Nervensystem haben, ist auch Artenschutz bei ihrer Zucht kaum ein Bedenken. Ihre Ökobilanz ist so beeindruckend, dass Jennifer Jacquet, Professorin für Umweltstudien an der New York University, schreibt: »Muscheln sind wahrscheinlich nicht nur die beste Option aus dem Meer, sondern schlicht die beste Option, wenn man Tiere isst. Punkt.« Und der Meeresaktivist und Fischereiexperte Paul Greenberg, Autor des Bestsellers »Four Fish«, meint: »Weil Dinge wie Rinderzucht wirklich eine enorme Belastung für unsere Ressourcen bedeuten, werden wir nie an den Punkt kommen, wo jeder Rindfleisch essen kann. Ich glaube aber, dass wir an den Punkt kommen können, wo jeder Muscheln essen kann.«

Wasser reinigen

Eine Miesmuschel kann bis zu 15 Liter Wasser pro Tag filtern, eine Auster gar bis zu 200. Das macht sie nicht nur dick und köstlich, sondern reinigt auch das Wasser: In Gegenden, wo wegen intensiver Landwirtschaft und Überdüngung zu viel Nitrat und Phosphor ins Meer gelangen (der Fachmann spricht von Eutrophierungsproblem), werden mittlerweile Muschelfarmen angesiedelt, um das Wasser wieder von zu vielen Nährstoffen zu reinigen. Außerdem bieten Muschelbänke Lebensraum für zahlreiche andere kleine Lebewesen, die sich auf und unter ihren Schalen ansiedeln. Austernzuchten werden daher in vielen Gegenden zur Regeneration der Meere angelegt. 

»Best Choice«

Anders als etwa große Fische wie Thunfisch und Schwertfisch, lagern Miesmuscheln auch so gut wie gar kein Quecksilber ein, andere Muscheln wie etwa Venusmuscheln zumindest nur sehr wenig. Sie werden daher regelmäßig von Verbraucherschutzorganisationen auch für Schwangere empfohlen. Und Seafood Watch, eine der profiliertesten Fischratgeberlisten weltweit, herausgegeben vom Monterey Bay Aquarium in Kalifornien, gibt Miesmuscheln die Höchstnote »Best Choice«.

Einziger Wermutstropfen

Als Filtrierer nehmen Muscheln potenziell alles auf, was so durchs Meer treibt – auch Mikroplastik und andere nicht unbedingt appetitliche Dinge. Sie sollten daher nur dort angebaut werden, wo die Wasserqualität auch passt. Generell werden Muscheln, die bei uns auf den Markt kommen, regelmäßig überprüft: »In den USA, Europa und auch in großen Teilen Asiens gibt es strenge Protokolle und Tests sowohl für Wasser als auch für Muscheln, die erstaunlich effektiv sind«, sagt Gary Wikfors, der unter anderem für die US-Regierung das Potenzial von Muscheln erforscht. »In der entwickelten Welt esse ich bedenkenlos rohe Meeresfrüchte.«

Muschelsaison

Dennoch ist es immer gut zu wissen, woher die Muscheln auf dem Teller kommen – auch, weil sie zu unterschiedlichen Jahreszeiten Saison haben. Kurz vor der Vermehrung, wenn die Weibchen Eier und die Männchen Samen ausstoßen, nehmen Muscheln stark ab und schmecken nicht mehr so gut und üppig. Miesmuscheln aus dem Atlantik etwa, zu der die Nord- und Ostsee gehören, sind im Frühjahr (also jetzt!) am besten, jene aus dem Mittelmeer hingegen haben im Sommer Saison (die alte Weisheit, Muscheln nur in Monaten zu essen, die auf »r« enden, dürfte aus der Zeit vor funktionierenden Kühlketten stammen). Mit moderner Logistik ist es kein Pro­blem, frische Muscheln auch ins Binnenland zu bringen. Die Tiere überleben ohne Weiteres mehrere Tage, so lange sie feucht und kalt gehalten werden. Manche Arten, zum Beispiel Austern, profitieren sogar von einer kurzen Lagerzeit – aufgrund ihres Stoffwechsels werden sie außerhalb des Wassers für einige Zeit noch geschmacksintensiver. Immer noch nicht überzeugt? Dann kommt das für viele Konsumenten wichtigste...

Erschienen in
Falstaff Rezepte 01/2020

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Tobias Müller
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