LIVING Essay: Wohnen im Büro
Ist das Home-Office das Arbeitsbild der Zukunft? Welche Vor- und Nachteile gibt es?
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Ist das Home-Office das Arbeitsbild der Zukunft? Welche Vor- und Nachteile gibt es?
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Den »Tod des Schreibtischs« hat der »Guardian« schon im Jahr 2014 verkündet: Im neuen BBC-Gebäude wurde die Zahl der Arbeitsplätze für die 5600 Mitarbeiter auf 3500 reduziert. Dabei ging es nicht ums Sparen beim Möbelkauf. Wer ins Büro kam und keinen freien Schreibtisch fand, sollte »mobilisiert« werden, zwecks »positive crowding and sharing« durch den Campus zu wandern. Den gleichen Zweck verfolgt auch Norman Fosters Apple-Gebäude. Längere Arbeitszeiten erfordern Abwechslung nicht nur bei der Arbeit, sondern auch in deren Umgebung. Will man die Belegschaft motivieren, ihr Leben möglichst zur Gänze im Büro zu verbringen, ist man gut beraten, dieses möglichst lebendig und wohnlich zu gestalten. Ging es früher darum, die Strecke vom Lift zum Schreibtisch zu verkürzen, führt im Pixar-Headquarter jeder Weg durch das Atrium. Man hofft, dass mehr Begegnungen Anstöße zu mehr Zusammenarbeit geben.
»Heute ist der Begriff Arbeitszimmer primär ein Stichwort für steuerrechtliche Querelen und Spitzfindigkeiten.«

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Dem Trend zum Wandern kommt auch das neue Kapsch-Büro entgegen, dessen Besprechungsräume als Birkenwäldchen, Nordsee-Strandkörbe, kanadische Holzfällerhütte, Wiener Heurigenstüberl und New Yorker Loft gestaltet sind. Dahinter stecken die auf trendige Erlebnisbüros spezialisierten Designer von Wideshot. Den Gipfel arbeitsamer Wohnlichkeiten haben sie mit einem Besprechungsraum erklommen, der wie eine Zeitkapsel den Stil der 1940er-Jahre reanimiert. Düster ornamentierte Streifentapeten, Perserteppiche, dunkelbraune Kunstledersofas und ein schwerer Kristallaschenbecher (dessen Benutzung selbstverständlich verboten ist) entführen die Mitarbeiter in eine Zeit, in der ein Zuhause noch ein richtiges Zuhause war – lange bevor das Home-Office erfunden wurde.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts waren Arbeitszimmer Adeligen, Großbürgern, Unternehmern und Selbstständigen vorbehalten. In den Villen und Herrschaftswohnungen des 19. Jahrhunderts fanden sich Schreibtische auch im »Herrenzimmer«. Hier wurden männliche Gäste empfangen, hierher zogen sich nach einem Essen die Männer zurück, um beim Konsum von Alkohol und Tabak Themen der Politik und Wirtschaft zu besprechen, von denen Frauen ausgeschlossen bleiben sollten. Diese Rauchsalons waren in dunklen Farben eingerichtet, damit der Qualm keine Spuren hinterließ. In allen anderen Wohnräumen herrschte Rauchverbot – eine Regel, die während der letzten Jahrzehnte zuerst in Büros etabliert wurde, bevor sie in immer mehr Wohnungen Einzug hielt. Das häusliche Herrenzimmer des 19. Jahrhunderts war der Vorläufer des Raucherraums in den Büros des 21. Jahrhunderts – wenn auch deutlich unterschieden im Grad der Gemütlichkeit.
Heute ist der Begriff Arbeitszimmer primär ein Stichwort für steuerrechtliche Querelen und Spitzfindigkeiten. Definitionsgemäß ist es nicht mehr den Selbstständigen zwecks Berufsausübung vorbehalten. Neu ist, dass auch die Arbeitnehmer es »für Zwecke der Heim- und Telearbeit« nutzen und von der Steuer absetzen können. Die von Notebook, Internet und Cloud angestoßene Revolution der Arbeitswelt ist damit nicht nur in der Rechtsordnung angekommen. Sie verändert auch unseren Wohn- und Lebensstil, unseren Arbeits- und Zeitbegriff – und nicht zuletzt unser Verständnis für den Unterschied zwischen Fremdbestimmung und Selbstverwirklichung.
»Das Home-Office erspart nicht nur dem Arbeitgeber ein Bürohaus, es leistet auch gute Dienste für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie.«
Das Home-Office erspart nicht nur dem Arbeitgeber ein großes Bürohaus, es leistet auch gute Dienste für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zumindest für Menschen mit hoher Begabung zur Selbstdisziplin. Seine bekanntesten Schattenseiten sind Vereinsamung, Selbstausbeutung, verdeckte Mehrarbeit und die Gefahr von Arbeitssucht. Die Auflösung der Grenze zwischen Beruf und Privatleben, Arbeit und Freizeit verspricht im Geist der Selbstverwirklichung und »intrinsischen Motivation« eine Totalisierung der Freiheit und Freizeit, endet aber nicht selten in einer Totalisierung der Arbeit.
Dagegen behilft sich, wer genug verdient, mit der Einrichtung eines eigenen Arbeitszimmers. Dieses soll nicht nur die zur Konzentration nötige Ruhe sichern, sondern auch einen symbolischen Unterschied markieren. Der in der Realität von Auflösung bedrohte Gegensatz zwischen Arbeit und Freizeit wird mittels Design ein wenig gerettet. Das Home-Office sieht nicht wie ein weiteres Wohnzimmer aus. Seine Möblierung soll doch ein wenig Arbeitsatmosphäre verbreiten. Büromöbel helfen, daheim für die Arbeit in Stimmung zu kommen. Ein richtiges Arbeitszimmer muss, um ein solches zu sein, etwas kälter, sachlicher, funktionaler und rationaler ein- gerichtet sein als das auf Gemütlichkeit und Entspannung zielende Wohnzimmer. Es muss so tun, als wäre es ein Büro.
Für diese doch ein wenig paradoxe Situation gibt es mittlerweile eigene Designlösungen: Spezialmöbel für das Arbeiten daheim. Büromöbel mit einigermaßen wohnlicher Anmutung, Zwischenwesen des Fleißes und der Gemütlichkeit. Die Schreibtische sind etwas kleiner, ihre Tischplatten bestehen aus Hölzern entsprechend den neuesten Wohntrends, ihre Beine sind zierlich, geometrisiert und hoch- glänzend. Als Bürostühle und Schreibtischlampen stehen Designkunstwerke zur Verfügung, die in der Firma nicht einmal dem Chef zustehen. Denn im Büro sind offenkundig teure Möbel immer auch Darstellungsformen der Hierarchie, ihrer Dosierung oder auch Verdeckung. Im Home-Office kann sich jeder hemmungslos als sein eigener Chef inszenieren. Hier und nur hier ist der individuelle Geschmack die höchste Instanz der Entscheidung.
Während sich daheim Büromöbel, die auch wie solche aussehen, ungebrochener Beliebtheit erfreuen, verlieren sie in den Büros an Boden. Sucht man zum Stichwort »New Work« nach Bildern, sieht man junge Werktätige, die in einen orangefarbenen Sitzsack versunken ins Notebook tippen und ihre Papiere auf einem Stapel alter Paletten oder Holzkisten ausbreiten, wenn sie nicht gerade an der Bar oder in der mit zerschlissenen Oma-Sofas möblierten Lounge eine Besprechung oder sagen wir besser ein Team-Meeting abhalten. Seit Coworking-Spaces auch von Firmen wie IBM als Ersatz für eigene Büroräume genutzt werden, klettert deren jugendlich-informelle Flohmarkt-Ästhetik die Karriereleiter hoch. Wer selbst kein Berliner Kreativ-Start-up ist, kann sein Büro zumindest so einrichten. Soweit man funktionsbedingt ohne Schreibtisch nicht auskommt, werden Architektentische und grobe Holztische bevorzugt. Wichtig ist nur, dass die Büromöbel keinesfalls wie ebensolche aussehen. Dann fehlte ihnen jegliche Macht, den Arbeitscharakter des lustigen Beisammenseins zu dementieren und den traditionellen Unterschied zwischen Beruf und Privatleben einzuebnen. An die Stelle der Stechuhr ist das Handy getreten. Dieses bricht die Arbeit nicht ab, sondern begleitet einen nach Hause, um dort die Freizeit jederzeit unterbrechen zu können.
Mit Notebook und Handy gerüstet kann man jederzeit und an jedem Ort der Welt arbeiten, im Wald so gut wie am Segelboot. Damit hat nicht nur das Büro, sondern auch der Arbeitsraum seine Funktion verloren. Wohnen muss sich nicht länger als Gegenpol zur Arbeit inszenieren. Eine Zukunft hat der traditionelle Arbeitsplatz nur noch als Design-Zitat für die Ich-AG. Diese ist die einzige AG ohne Aktienbesitz, dafür mit einem Büro so groß wie der Planet.
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