Erst mit 37 Jahren begann Astrid Lindgrens literarische Karriere, dabei hatte man ihr bereits in ihrer Schulzeit prophezeit, dass sie einmal Schriftstellerin werden würde.

Erst mit 37 Jahren begann Astrid Lindgrens literarische Karriere, dabei hatte man ihr bereits in ihrer Schulzeit prophezeit, dass sie einmal Schriftstellerin werden würde.
© Astrid Lindgren Aktiebloag

Kunst & Kulinarik: Astrid Lindgren

»Vom Essen muss man Schreiben.« Von Afrikaans bis Zulu wurden Astrid Lindgrens Werke in über 100 Sprachen übersetzt. Die wohl berühmteste Kinderbuchautorin schrieb, inspiriert von ihrer eigenen Kindheit, für das »Kind in ihr selbst« und erreichte damit die ganze Welt. Eines haben all ihre Protagonisten gemeinsam: die Leidenschaft fürs Essen.

Begonnen hat alles in Südschweden in Småland. Genauer gesagt auf dem Pfarrhof Näs bei Vimmerby. Dort lebte die kleine Astrid mit ihren Eltern und ihren drei Geschwistern in einem roten Häuschen mit weißen Holzfenstern, umgeben von Wäldern, Wiesen und Bächen. Hier spielte sie mit den Kindern der Nachbarhöfe, versteckte sich in Scheunen und Schuppen, kletterte auf hohe Bäume, brachte den Knechten Kaffee aufs Feld und aß mit ihnen Butterbrote.

In ihrem autobiografischen Buch »Das verschwundene Land« schreibt Astrid Lindgren: »Es war schön, auf Näs Kind zu sein, und schön, Kind von Samuel August und Hanna zu sein. Warum war es schön? Darüber habe ich oft nachgedacht, und ich glaube, ich weiß es. Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit

Die Erinnerung an die Kindheitstage waren der berühmten Kinderbuchautorin lebenslange Inspirationsquelle. Einige der Menschen, die sie damals umgaben, wurden Vorbilder für die wunderbaren und eigentümlichen Figuren ihrer Bücher: In dem Lausbuben Michel aus Lönneberga, der mit seiner Familie auf dem Hof Katthult lebt, hat sie ihren Vater als Kind gesehen. Samuel August hatte seiner Tochter oft von seinen Streichen erzählt. Für Michels Mutter ist Astrids eigene Mutter Hanna Patin gestanden und für ihre Romanfigur »Madita« ihre Schulfreundin Anne-Marie Ingeström, die Tochter des Bankdirektors von Vimmerby. Mit dem aufgeweckten Buben Lasse hat sie in den »Bullerbü-Büchern« ihrem geliebten Bruder Gunnar ein Denkmal gesetzt. Er übernahm später den elterlichen Hof.

Dem Zufall sei Dank

An die 40 Kinderromane hat Astrid Lindgren bis an ihr Lebensende verfasst. Dabei wollte sie nie Schriftstellerin werden. Ihr erstes Buch »Pippi Langstrumpf« entstand eher zufällig. Als Astrids Tochter Karin im Winter 1941 mit einer Lungenentzündung im Bett lag, sagte sie eines Abends zu ihrer Mutter: »Erzähl mir von Pippi Langstrumpf«. Diesen Namen hatte sich das Mädchen ausgedacht, einfach so. Astrid begann also, von Pippi zu erzählen. Später schrieb sie die Abenteuer von der selbstbewussten Seemannstochter mit den roten Zöpfen auf, und zwar auf die ihr so eigene Weise: »Ich habe geschrieben, wie ich mir selbst ein Buch wünschen würde, wenn ich ein Kind wäre. Ich schreibe für das Kind in mir selbst«, sagte sie später. Und dieses Kind in ihr hatte eine unerschöpfliche Fantasie.

So unterschiedlich Michel aus Lönneberga, Madita, Pippi Langstrumpf, Ronja oder Karlsson vom Dach auch sind, eines haben sie alle gemeinsam: Sie essen für ihre Leben gern. Das ist kein Zufall. Das gemeinsame Essen hatte auch am Hof von August und Hanna Ericsson einen hohen Stellenwert und war nach getaner Arbeit Fixpunkt für alle. Astrids Eltern kannten kein Dünkel. Für sie war es selbstverständlich, dass die Familie mit ihren Knechten, Mägden und Tagelöhnern gemeinsam am großen Küchentisch aß.

Nachdem die Männer von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang schwere Arbeit auf den Feldern zu verrichten hatten, servierte ihnen Mutter Hanna eine deftigere Kost als ihren Kindern. Schon in der Früh hatten sie neben Grütze, Kartoffeln, Milch und Brot auch Hering und fetten Speck auf ihren Tellern. »Manchmal bekam auch ich eine Speckschwarte ab«, erinnerte sich Lindgren als alte Frau. »Ich kaute sie genüsslich und langsam. Das war das Beste.«

Wie eng das Verhältnis der Ericssons mit ihrem Gesinde war, zeigte sich daran, dass die kleine Astrid und ihre Geschwister in deren bescheidenem Häuschen stets willkommen waren. Viel Zeit verbrachten Astrid und ihr Bruder Gunnar etwa in der Küche von Kristin, der Frau des Küchenknechts. Wenn die beiden Kinder auf der Ausziehbank beim Ofen saßen und Pfannkuchen naschten, begann Kristins Tochter, den beiden Märchen vorzulesen, und »versetzte meine Kinderseele dadurch in Schwingungen, die bis heute noch nicht ganz abgeklungen sind. In einer seit Langem verschwundenen, armseligen, kleinen Häuslerküche geschah dieses Wunder und seit jenem Tag gibt es für mich in der Welt keine andere Küche.« In ihren Büchern ist das »Herz des Hauses« immer ein wunderbarer Ort, wo es nach Zimt, Käsekuchen, Kirschkompott oder gebratenem Speck riecht. Wo es warm ist, auch, wenn es draußen klirrend kalt ist, wo die Menschen beisammensitzen, essen, sich Geschichten erzählen, streiten und sich wieder vertragen.

Im Haushalt der Ericssons hatte Astrids Mutter Hanna allein das Sagen. Astrid beschrieb sie als sparsame und fleißige Frau, die »sich auf das meiste versteht: Sie kann Kühe melken, ein Pferdegespann lenken, sie kann weben und alles, was zum Schlachten dazugehört. Sie kann Käse zubereiten, spinnen und backen, und sie kann ohne Unterlass schaffen und das Gesinde anleiten.« Und sie hatte ein Herz für »die Armen und Elenden und half überall dort, wo Hilfe nötig war«. Beeindruckt hat Astrid, welche Unmengen an Köstlichkeiten ihre Mutter für diverse Festessen zubereiten konnte. Was es zu Weihnachten oder dem großen Mittsommerfest alles zu essen gab, hat sie in den »Die Kinder von Bullerbü«-Romanen und in ihren »Michel aus Lönneberga«-Geschichten festgehalten: Vor dem großen Sommerfest stand Michels Mutter tagelang von früh bis spät in der Küche, um für den Festtag vorzukochen. In der Vorratskammer türmten sich Schweinebraten, Kalbsrouladen, Heringssalat, Aal in Gelee, Kartoffelmus, köstliche Würste, Fleischbällchen, verschiedene Puddings, Apfelkuchen, Käsetorten, Kirschkompott, Rote Grütze und vieles mehr.

Ganz bewusst hat die Schriftstellerin der småländischen Küche viele Seiten gewidmet. Sie wollte, dass den kleinen und großen Lesern das Wasser im Mund zusammenrinnt: «Vom Essen zu erzählen, ist wichtig«, sagte sie. »Es wäre fast ein Verbrechen, zu schreiben, dass die
Bullerbü-Kinder bei einem Ausflug Essen dabeihatten, und dann nicht aufzuzählen, dass ihr Korb Eierpfannkuchen mit Marmelade und Milch und Saft und Wurstbrote und Kuchen und sechs Fischklöße enthielt.«

Essen ist ein Abenteuer

Essen ist für Astrid Lindgrens Protagonisten viel mehr als eine Notwendigkeit. Es ist Genuss, Geselligkeit – und Abenteuer. So freut sich Herr Karlsson jedes Mal diebisch, wenn er mit seinem Propeller von seinem Dach zum Küchenfenster im vierten Stock fliegt und die »weltbesten« Zimtschnecken, die zum Auskühlen auf der Fensterbank stehen, stibitzen kann. Mit den Fleischbällchen macht er es nicht anders. »Karlsson vom Dach« ist übrigens eine der wenigen Geschichten, die Lindgren in Stockholm spielen lässt. Viel mehr als die Stadt faszinierte sie die Natur, mit der sie sich »als Bauernmädchen«, wie sie sich stets nannte, so verbunden fühlte.

In den »Bullerbü-Büchern« schreibt sie, dass die Kinder jede Jahreszeit mögen. Der Sommer mit seinen warmen, langen Tagen ist ihnen aber am liebsten. Vor allem der August, denn erst da darf man mit dem Krebsfangen beginnen. »Der Tag, bevor es losgeht, ist beinahe so schön wie Heilig­abend«, sagt die siebenjährige Lisa. Am Abend dürfen die Kinder mit ihrem Papa und ihrem Onkel zum Nocken, einem See im Wald, wandern: Dort angelangt, rudern sie auf das Wasser hinaus und setzen die Käfige, mit denen sie die Krebse fangen wollen, aus. Dann bauen sie sich mit Wacholderzweigen Hütten, machen ein Lagerfeuer und essen ihre Butterbrote. Schlafen können die Kinder nicht lang: »Als es vier Uhr morgens war, kam Papa und weckte uns. Und da war ich froh, wenn ich auch fror wie ein Hund. Die Sonne schien (...) und von Papa bekamen wir warmen Kakao. Über dem See lag ein wenig Nebel, aber der ging bald fort.« Ein Erlebnis, das Lisa um nichts missen möchte: »Mir tun alle Menschen leid, die niemals um vier Uhr morgens auf einen See hinausgerudert sind, um Krebskäfige einzuholen.« 

Für all jene Kinder, die nie erlebt haben, wie es ist, Krebse zu fangen, heimlich Würste im Schuppen zu essen oder Prinzessinnentorte in einer Baumkrone, hat Lindgren ihre Geschichten geschrieben. Lindgren starb 2002 im Alter von 94 Jahren. Sie wurde an ihrem Geburtsort Vimmerby beigesetzt. Auf ihrem Grabstein ist Folgendes zu lesen: »Wenn ich auch nur eine einzige düstere Kindheit erhellen konnte, bin ich zufrieden.«


Erschienen in
Falstaff Nr. 06/2022

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Judith Hecht
Autor
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