Kaffeehaustrend: Zeit ist Geld

In Moskau und nun auch in London zahlt man nicht für die Konsumation, sondern für die Zeit, die man im Café verbringt.

Was in Moskau seit geraumer Zeit boomt und nun auch in London Fuß fasst, ist bei uns nur schwer vorstellbar: Ein Kaffeehausbesuch, bei dem man nicht für das zahlt, was man isst und trinkt, sondern für die Zeit, die man dort sitzt. Angesichts dieses Konzepts wäre eine Wiener Kaffeehauskultur wohl kaum denkbar.

(Verlängertes) Wohnzimmer
In einer Stadt wie Moskau, in der Wohnraum begrenzt und teuer ist, in der Stress den Alltag prägt, sind Oasen der Ruhe besonders gefragt. All jene, die sich der Hektik des Alltags entziehen möchten, finden im Café Ziferblat ein zweites Wohnzimmer.

Gratis-Kaffee
Zwei Rubel pro Minute (entspricht umgerechnet rund 4,5 Cent) kostet der Aufenthalt – auf die Stunde gerechnet liegt man bei etwa 2,70 Euro. Um diese Summe bekommt man im Wiener Kaffeehaus mit etwas Glück eine Melange. Und wenn man sich dafür lange Zeit lässt, riskiert man in touristisch gefragten Kaffeehäusern dann schon mal, zum Gehen aufgefordert zu werden. Anders ist es im Ziferblat: An der Theke »registriert« man sich und danach entscheidet man nicht nur selbst, wie lange man bleiben möchte, man darf auch kostenfrei aus einem Angebot aus Kaffee, Tee, Gebäck und Obst wählen.

Es ist aber wohl nicht der Gratis-Kaffee, warum dieses Konzept so großen Zuspruch findet: einerseits sehnt sich das Publikum nach einer Flucht aus dem Alltag (Mobiltelefone und Laptops sind im Ziferblat Tabu), andererseits ist es der Kontakt zu anderen, zu Fremden, der das Konzept ausmacht. Schnell kommt man mit Leuten ins Gespräch, schließt Bekanntschaften – ein sozialer Mehrwert sozusagen.

Erfolgskonzept
»Erfinder« des »Zahl-die-Zeit«-Konzepts ist der Moskauer Ivan Meetin. Der ehemalige Künstler eröffnete im Herbst 2011 das erste Café Ziferblat. Mittlerweile betreibt er zahlreiche Dependancen und Ende November 2013 eröffnete die erste Filiale in London (eine Stunde Aufenthalt kommt hier auf 1,80 Pfund). Es gibt auch etliche Nachahmer, die das Erfolgskonzept aufgreifen bzw. adaptieren. So erklingt in manchen Moskauer »Anticafés« – sie präsentieren sich gemeinsam auf einer Webplattform – entgegen Meetins Philosophie laute Musik.

Seniorentreff bei Mc Donald's
Das »Pay-per-Minute«-Schema würde auch einer New Yorker Mc Donald's Filiale aus der Zwickmühle helfen. Wie vor wenigen Tagen bekannt wurde, wird ein Restaurant des Fast-Food-Riesen im Stadtteil Queens täglich von einer Gruppe Senioren regelrecht belagert. Den ganzen Tag verweilen sie in den Schnellrestaurant und konsumieren meist nicht mehr als einen Becher Kaffe oder eine kleine Portion Pommes Frites. Mehrmals wurden die Senioren schon von der Polizei aufgefordert, die Filiale zu verlassen – andere Gäste hatten bereits ihr Geld zurückgefordert, da sie keinen Platz fanden, um ihr Essen zu konsumieren. Die Senioren kehrten aber immer wieder zurück.

Gerade in den USA ist es kein seltenes Bild: In manchen Starbucks-Filialen (die modernerweise auch mit Gratis-W-Lan ausgestattet sind) richten sich Menschen ihr kleines Büro ein, verbringen dort den Großteil des Tages um zu arbeiten.

Keine Zeit für Genuss
Die Rufe nach einer Mindestkonsumation werden angesichts dieser Entwicklung immer lauter. Unüblich ist es auch nicht mehr, dass man bei Restaurant-Reservierungen »Slots« zugewiesen bekommt: Ein mehrgängiges Abendessen darf der Gast dann in einer vom Gastonomen vorgegebenen Zeitspanne zu sich nehmen.

Es handelt sich dabei um Extreme, zu denen das Café Ziferblat eine klare Gegenbewegung darstellt. Allerdings würde es mit diesem Konzept wohl keinen Harry Potter geben. Da sich Autorin Joanne K. Rowlings daheim die Heizung nicht leisten konnte, schrieb sie ihren ersten Roman in einem Café in Edingborough. Und hätte sie für jede Minute bezahlen müssen, hätte ihre Erfolgsgeschichte womöglich so nicht statt gefunden.

ziferblat.net

www.antikafe.com


(von Marion Topitschnig)

Marion Topitschnig
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