Istanbul: Bunte Vielfalt am Bosporus

Die Kombination aus ­Luxus, Panorama, guter Küche und historischem ­Ambiente macht den Reiz der facettenreichen Metropole aus.

Poyraz bringt Leben, sagen die Fischer und meinen den Nordostwind. Er durchlüftet die Metropole am Bosporus und sorgt für Strömungen. Und mit den Strömungen kommen die Fische. Dicht gedrängt stehen dann die Angler auf der Galata-Brücke und schauen ins Nirgendwo. 

Hinter ihnen staut sich der Verkehr in beiden Richtungen. »Yavas, yavas«, sagt der Taxi­fahrer, wenn der Gast ungeduldig wird – immer mit der Ruhe. Wenn das so einfach wäre in dieser Megacity, die Tag und Nacht in Bewegung ist. Das neue Istanbul swingt wie derzeit keine andere Stadt Europas.

Mehmet Gürs präsentiert im »Mikla« die neue türkische Küche / Foto: beigestelltDesigner, Künstler, Intellektuelle und Trendscouts finden dort Inspiration – und kulinarische Weltenbummler, die ständig auf der Suche sind nach Entdeckungen. Davon gibt es reichlich, im gesamten Spektrum zwischen Spitzengastronomie und den Garküchen. Auch unter der Galata-Brücke, auf üppig verzierten Kuttern, die im Sechserpack aneinandergebunden dümpeln, aufgeputzt, als ob sie Haremsdamen eines Sultans durchs Goldene Horn schippern wollten. An Bord braten Köche im Akkord »balık ekmek« auf dem Rost. Und die Einheimischen reißen ­ihnen quasi jedes Fischbrötchen vom Grill. »Balık ekmek« ist der berühmteste Snack in Istanbul. Und dort, wo die Hungrigen Schlange stehen, schmeckt er am besten. Anstellen, zupacken, hineinbeißen. Das Fett tropft über Kinn und Hände. Macht nichts. Die Makrelen sind zart und saftig. Ein erster Beweis, dass Orhan Parmuk recht hat. Der türkische Nobelpreisträger schrieb, dass die Straßenverkäufer Istanbuls nur das anbieten, was sie selber gern essen. Am anderen Ende der Galata-Brücke kann man sich auf dem Wochenmarkt vom fangfrischen Zustand der Fische überzeugen: Die Augen sind klar und die Kiemen rot.

Fusion-Küche im »Ulus 29«: frische Zutaten, mit türkischen Motiven hübsch arrangiert / Foto: Paul SpierenburgAls Besucher fragt man sich unwillkürlich, wie es denn wohl um die Verschmutzung der Gewässer in und um die bevölkerungsreichste Stadt der Türkei steht. Täglich verkehren Hunderte Tanker, Frachter und Fähren in der Meerenge zwischen Europa und Asien. »Der Bosporus wirkt wie eine Düse«, sagt Mehmet Gürs, »er putzt durch. Fische und Meeresfrüchte sind clean.« Gürs muss es wissen, Seafood-Gerichte dominieren die Speisekarte seines Restaurants – vorwiegend im Winterhalbjahr, die Fischfangsaison dauert etwa von Oktober bis Mai. Das »Mikla« gehört zu den besten Adressen der Stadt, es liegt auf dem Dach des Marmara Pera Hotels. Zu den kreativen Gerichten des Chefs gibt’s jenes legendäre Panorama, das alles zeigt, was das einstige Byzanz oder Kons­tantinopel oder Stambul berühmt gemacht hat: die Kuppeln von Topkapı, die Hagia Sophia, die Blaue und die Suleiman-Moschee, die Minarette. Monumente der Hauptstadt des Osmanischen Reichs, das in seiner größten Ausdehnung Ende des 17. Jahrhunderts von Persien über die Arabische Halbinsel und Nordafrika bis nach Wien reichte.

In jener Zeit liegen die Wurzeln der viel­fältigen Küche der Stadt. Seit einigen Jahren machen sich junge Köche daran, diese zu modernisieren. Mehmet Gürs war der erste, der mit seiner »New Anatolian Cuisine« für Furore sorgte. Auf dem Teller heißt das Tradition – was Rezepte und hochwertige lokale Zutaten angeht – gepaart mit puristischem Design, in dem sein nordisches Erbe anklingt (der Vater ist Türke, die Mutter Finnin). Mit seiner langen Küchenpraxis in New York wird er von der High Society – geografisch  nicht ganz zutreffend – als Jamie Oliver Istanbuls gefeiert.

Im Restaurant »Çiya« im Stadtteil Kadıköy gibt es ausgezeichnetes Kebab / Foto: Paul Spierenburg
Im Restaurant »Çiya« im Stadtteil Kadıköy gibt es ausgezeichnetes Kebab

Die Kombination von Panorama und feiner Küche ist typisch für diese Stadt. Im »Ulus 29« hat man zu weißen Trüffeln mit gerösteten Pinienkernen oder Lammkaree mit hausgemachten Pommes einen Blick auf die Bosporus-Brücke – und im »Vogue« eine grandiose Rundumsicht, wenn man sich im Restaurant mit Sushi-Tresen und Cocktailbar nicht von den Models auf den Monitoren und dem Parkett ablenken lässt.

Die Märkte der Stadt sind eine Fundgrube für Freunde orientalischer Gewürze / Foto: Paul SpierenburgSpitze im Wortsinn ist das Restaurant »Gaja« auf dem Swissôtel The Bosphorus: Wie eine Pyramide mit breiten Stufen krönt es das Dach. Chef William Mahi hat 14 Jahre Erfahrung in französischen und baskischen Sterne-Restaurants gesammelt und gehört mit seiner Kunstfertigkeit zu den Großen der Gourmetwelt. Seine Gerichte sind nicht nur optische, sondern auch geschmackliche Kunstwerke.
Man muss aber nicht unbedingt so hoch hinaus, will man die Spezialitäten kosten. Am Straßenrand dampft »nohut pilav« im Glaskasten auf hübsch dekorierten kleinen Wagen, ein Reisgericht mit Kichererbsen und Huhn, oder »pilav ali pasa« mit Hackfleischbällchen und Gemüse. Pilav hat eine lange Tradition: In den Küchen des osmanischen Hochadels gab es Köche, die einzig und allein für dieses Reisgericht verantwortlich waren.

Aus den Dörfern Anatoliens hingegen stammt »gözleme«, eine Art Crêpe. Findige Wirte haben Hausfrauen in die Schaufenster der Restaurants platziert. Coram publico kneten sie Teig zu hauchdünnen Fladen. Darauf kommt ein zarter Aufstrich aus Spinat, Schafskäse und frischen Kräutern, der Fladen wird zusammengeklappt, kurz auf die heiße Platte geworfen – und fertig ist »peynirli gözleme«, ein »Imbiss to go« vom Feinsten.

Berühmt für seinen Blick über Meer und Stadt: das Restaurant im Hotel Four Seasons »At the Bosphorus« / Foto: beigestellt
Berühmt für seinen Blick über Meer und Stadt: das Restaurant im Hotel Four Seasons »At the Bosphorus«

Die öffentliche Darstellung hausfraulicher Küchenpraktiken hat einen Trend ausgelöst. Manch leidenschaftliche Köchin unter den Damen der Gesellschaft steht selbst am Herd ihres Restaurants. Vorreiterin war Ece Aksoy, die ihre Gäste seit den 80er-Jahren mit feiner Hausmannskost begeistert. Für ihr jetziges Lokal »9 Ece« in Beyoglu, einem Stadtteil auf der europäischen Seite Istanbuls, verwendet sie ausschließlich tagesfrische Marktprodukte. Daraus bereitet sie in einer Art Kombüse raffinierte ­ägäische Traditionsgerichte nach der Devise: »Iss im Sommer Gemüse, das von der Sonne, im Winter solches, das vom Schnee ­geküsst ist.«

Im noblen Shoppingviertel Nisantası, wo die weibliche Schickeria Bottega Veneta (keine Kopien!) ausführt und mit ihren Jimmy-Choo-Sandaletten unterm Esstisch wippt, trägt Semsa Denizsel in ihrer »Kantin« selbstbewusst Birkenstock.

William Mahi vom Restaurant »Gaja« hat 14 Jahre Erfahrung in französischen und baskischen Sterne-­Restaurants gesammelt / Foto: beigestelltSchlichtes Outfit, schlichte Küche? Die Gerichte sind einfach, aber jeder Bissen entfacht Geschmacksexplosionen. Man erkennt den Res­pekt vor dem Produkt und die Sorgfalt, mit der Semsa arbeitet. »Es schmeckt wie bei Oma und zeigt dazu moderne Stilistik«, sagt eine junge Frau am Nebentisch. Unwillkürlich wünscht man sich so etwas bei den türkischen Köchen hierzulande, zum Beispiel das Carpaccio von knackig frischen Artischockenböden und auf den Punkt gegartes Marmorbrassen-Filet.

Kalorienzähler allerdings sollten sich nicht ins Souterrain des Restaurants wagen. Ob Lemon-, Chocolate- oder Carrot-Cake, Sahneteilchen, Baisers oder Früchtekuchen – die Leckereien sind unwiderstehlich.

Istanbuls reizvollster Markt befindet sich im asiatischen Teil der Stadt, nicht weit vom Fähranleger Kadıköy entfernt. Obst, Gemüse, Fisch und Fleisch halten jeder Qualitätskontrolle stand. Das erstklassige Angebot ist derart appetitlich arrangiert, dass man bedauert, keine eigene Küche in der Nähe zu haben. Zum Glück gibt es das »Çiya« mit gleich drei Lokalen. Inhaber ist Musa Dagdeviren, ein »Indiana Jones« der türkischen Kulinarik. Er reist durchs Land, um vergessene Rezepte auszukramen, althergebrachte Küchentechniken zu bewahren und auf den Märkten der Dörfer wenig bekannte Kräuter sowie traditionell gemästetes Geflügel zu kaufen. Entsprechend spannend ist das Angebot in seinen Restaurants, selbst bei auf den ersten Blick simplen Angeboten wie den zwei Dutzend Salatmischungen auf dem Buffet, unter denen nicht eine hiesigen Geschmackserwartungen entspricht.

Leichte türkische Gerichte kommen im Restaurant ­»Lokanta Maya« auf den Tisch / Foto: beigestelltEbenfalls ein Erlebnis sind die Kebabs, die mit ungewöhnlichen Füllungen knusprig gebacken aus dem Holzkohleofen auf den Tisch kommen. In einem befanden sich handgeschnittenes Rinderhack, Walnüsse, Joghurt, Büffelmozzarella, Petersilie und Minze, in einem anderen Trüffeln. Einheimische schwärmen von Istanbuls bes­tem Lahmacun, einer papierdünnen Pizza, hauchzart bestrichen mit Tomatenpüree und Kräutern. Wenn man dazu noch beobachtet, mit welcher Freude die Köche die Teigwaren beladen und Fleischwürfel aufspießen, schmeckt das Essen in diesem anatolischen Superimbiss gleich doppelt gut. Auch Alfons Schuhbeck schwärmt vom »Çiya«. Und der ist, wie man weiß, ein Experte in Sachen ­Gewürze.

BEST OF ISTANBUL

Text von Kiki Baron
Aus Falstaff Nr. 08/2012 bzw. Falstaff Deutschland Nr. 06/2012

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