Honey & Bunny: Guten Geschmack gibt es nicht
Was gerne für eine angeborene oder individuell erworbene Fähigkeit gehalten wird, ist vielmehr das Produkt unzähliger Einflüsse aus Kultur, Gesellschaft, Moden und Zeitgeist.
Über Geschmack lässt sich streiten! Das sagt man jedenfalls so, meint damit aber eigentlich, dass etwas grauslich oder hässlich oder beides ist, aber nur man selbst diese Tatsache erkennt. Dabei gilt: Über Geschmack zu streiten, ist eigentlich gar nicht so einfach. Wir glauben zwar, dass ebendieser (meist gute) Geschmack auf individuellem Urteilsvermögen beruht, das man sich (auch) mit unzähligen Restaurantbesuchen antrainiert hat und auf das man mächtig stolz sein kann. Aber leider ist er gar nicht so individuell. Viel eher definieren allerhand kulturelle Faktoren, was uns schmeckt und wovor uns graust.
Denn jede Kultur dieser Welt erlegt sich beim Essen Regeln auf. Hier darf dies oder jenes nicht gegessen werden, was dort als allerhöchster Genuss gilt. Schweine- oder Kamelfleisch, Insekten oder Kuhmilch? Von Rom über Mekka bis Tokio definieren religiöse, nationalistische oder andere kulturelle Tabus den alltäglichen Speisezettel – und damit, was schmeckt und was nicht. Mithilfe dieser strengen Regeln grenzen sich Kulturen voneinander ab. Während der eigene Speiseplan als höchst geschmackvoll und edel betrachtet wird, verurteilt man die angeblich niedere, ja richtiggehend ekelhafte Diät der anderen. Geschmack lässt sich so auch hervorragend als rassistisches Werkzeug einsetzen. Und aus irgendeinem unerfindlichen, absurden Grund grausen wir uns am Ende tatsächlich vor Lebensmitteln, die wir aus den genannten kulturellen Gründen nicht essen »sollen«. Kamel oder Mehlwurm etwa lösen in Wien tendenziell Ekel aus. Muslime empfinden den Verzehr von Schweinefleisch als widerwärtig und in Japan werden Europäer abwertend als Butterfresser bezeichnet. Denn angeblich stinken wir nach Kuhmilch, einem europäischen Grundnahrungsmittel, dessen Verzehr in Japan lange Zeit verboten war. Geschmack repräsentiert also nur bedingt Persönlichkeit, vielmehr aber ein gesellschaftliches Regelwerk, das uns Herkunft und Umfeld von Geburt an überstülpen.
Jägerwecken-Comeback?
Und als wäre das nicht schon schlimm genug, ändert sich der »gute« Geschmack auch noch ständig. So ist das Essen, wie auch Kleidung oder andere Designgegenstände, dem Zeitgeist unterworfen. Was uns jetzt gerade schmeckt und was nicht, ist oft auch eine Modeerscheinung. Wir können uns noch sehr gut an die fetten Buffets der Siebzigerjahre erinnern, als sich die Tafeln unter Jägerwecken, Räucherfisch und Russischen Eiern bogen. Auch die riesigen, achteckigen schwarzen Teller voller knallbunter Fruchtspiegelkleckse und Kiwischeiben lösen bei uns heftige Retro-Gefühle aus. Und diese Liste (scheinbarer) Geschmacksverwirrungen ließe sich endlos fortsetzen und würde ebenso endlos viele Grinser verursachen. Wer würde heute etwa noch allen Ernstes Schweinelendchen in Gorgonzolasauce bestellen oder eine Heiße Liebe als Nachtisch? Andererseits sind die damals zunehmend verpönten Innereien bei vielen Foodies heute wieder en vogue und es gibt mittlerweile eine Menge Menschen, die dem einst verherrlichten Fleischkonsum massiv ablehnend gegenüberstehen. Dafür tauchen heute wahrscheinlich bereits 99 Prozent aller in Gastronomie oder schicken Heimküchen zubereiteten Speisen garantiert als Posting auf einer Social-Media-Plattform auf.
Geschmack ist Mode
Ästhetischer Zeitgeist wird leider viel zu oft als oberflächlicher Blödsinn abgetan. Dem widersprechen wir hiermit! Alle Dinge, mit denen wir uns umgeben – und davon essen wir bekanntlich auch einiges – sagen etwas über die Zeit aus, aus der sie stammen. Zum Beispiel verspeisten wir Europäer während der industrieverliebten Siebziger mit Begeisterung Produkte in Knallfarben. Süßigkeiten und Softdrinks waren künstlich gefärbt und symbolisierten damit die Freude am billigen Massenkonsum. Petrochemie, Atomkraft und Pestizide kamen damals bei den meisten gut an. Das spiegelten auch Supermarkt und Esstisch wider: guter Geschmack hieß gute Industrie! Heute kommen Gummibärchen oder Tiefkühlpizza deutlich matter daher. Sie sind jetzt voll natürlich eingefärbt. Das Empfinden über »gutes« und »nicht so gutes« Essen wird eben auch durch politische und kulturelle Strömungen beeinflusst.
Essen ist Meinung! Und Geschmack ist immer auch der Ausdruck einer (gefühlten) moralischen Überlegenheit. Gegen ein angebotenes Essen aufzutreten, gilt längst nicht mehr als unhöflich, sondern manifestiert den Anspruch auf Themenhoheit und Macht in einer vorgeblich friedlichen Tischgemeinschaft. Gastfreundliche Menschen werden heute gerne kritisiert, weil sie zu den »falschen« Zutaten oder Rezepten gegriffen haben. Insofern ist Geschmack immer auch eine Form von Angeberei. Denn am Ende ist es gleichgültig, ob ein alternder Weinkenner stundenlang über Rotweine doziert oder ein junger Revoluzzer den Schweinsbraten als unmoralisches, maskulin konnotiertes Emissionsmonster verteufelt. Beide fühlen sich in der jeweiligen Situation ihrem Publikum überlegen.
Geschmack vs. Genuss
Dabei ist es schade um jeden Bissen, den Tischgenossen dazu missbrauchen, um Überlegenheit jeglicher Art zu demonstrieren. Es ist vollkommen überflüssig zu sagen, dass ein Diskurs über guten Geschmack überflüssig ist. Denn wer von sich behauptet, einen guten Geschmack zu haben, will sich über jene erheben, die diesen seiner Meinung nach eben nicht haben – Tischmanieren versus asozial! Aber: Guter Geschmack existiert einfach nicht! Und einen »moralischen Geschmack« gibt es auch nicht!
Sehr wohl (er-)kennen wir aber alle ein richtig gelungenes Essen. Jede und jeder erinnert sich an eines, zu Hause oder beim Wirt unseres Vertrauens, das richtig gut geschmeckt hat, bei dem vortrefflich diskutiert und sich unterhalten wurde und alle Spaß hatten. Was war denn das – ach ja, eine Gemeinschaft. Denn Essen kann friedliche Gemeinschaften bilden. Ein gelungenes Essen kann fruchtbare Debatten auslösen. Es kann Konflikte beenden. Es kann bewegen. Und ein gelungenes Essen kann sogar den schlimmsten Angeber verstummen lassen. Das ist dann ein Genuss.
Honey & Bunny
Sonja Stummerer und Martin Hablesreiter studierten Architektur. Während eines Arbeitsaufenthalts in Tokio begannen sie sich für Food-Design zu interessieren, seither gestalten und kuratieren sie Ausstellungen und Filme, realisieren »Eat-Art-Performances« und schreiben bzw. illustrieren Bücher.