Das traditionelle große Holzfass – hier im Keller des Weinguts Nikolaihof – ist das ideale Gefäß für die lange Reifung.

Das traditionelle große Holzfass – hier im Keller des Weinguts Nikolaihof – ist das ideale Gefäß für die lange Reifung.
© Gregor Semrad

Gereifte Weißweine: Lob der Langsamkeit

Dass viele Rotweine von längerer Lagerung profitieren, weiß jedes Kind. Doch bei Weißweinen besagt ein weit verbreitetes Vorurteil: je jünger, desto besser. Spitzenwinzer zeigen jetzt wie falsch das ist.

Tom Drieseberg weiß noch ganz genau, wie alles begann. Im Herbst 2002 kam sein dama­liger Betriebsleiter zu ihm und meinte: »Chef, was machen wir nur? Draußen im Weinberg hängt mehr fruchtige Spätlese, als wir jemals verkaufen können.« Da habe er, so sagt der Besitzer der Weingüter Wegeler heute, 16 Jahre später, keinen Moment gezögert: »Ich habe mir 70.000 Flaschen geilster Spätlesen keltern lassen.« Natürlich verkaufte er in den ersten Jahren nach der Abfüllung der Weine nur einen Teil davon. Doch sein Plan war auch ein ganz anderer: »Ich hatte damals gerade in Beethovens Briefen gelesen, wie er seinen Verleger Schott in Mainz um reife Mosel- und Rheinweine bittet, nachgerade gebettelt hat er darum. Wenn sich die ersten zehn Jahre lang niemand für solche Weine interessiert: völlig egal. 2012 habe ich dann mit der Release der 2002er-Spätlesen die Wegeler »Vintage Collection« gestartet. Und als Erster kam kein Geringerer als der beste Sommelier der Welt, Andreas Larsson, um die Ecke und fragte nach den Weinen. Die 2002er-Lenchen-Spätlese aus Oestrich war 2012 sogar zum ersten Mal im Verkauf, vorher war die nie auf der Karte.«

»Vor ein paar Jahren kam ein alter Kunde meines Vaters und brachte einen trockenen 1947er-Würzgarten mit. Das hat mir die Augen geöffnet.«
Ernie Loosen Weingut Dr. Loosen, Bernkastel (Mosel)

Komplexität erzeugt Kulinarik

Dieser Wein zeigt exemplarisch die Faszi­nation reifer fruchtiger Weißweine: tau­-frisch und mit einem Spiel, in dem die Süße geschmacklich so weit zurücktritt, dass man den Wein viel trockener schätzt, als er ana­lytisch gesehen ist. Gerade als Speisenbegleiter sind solche Weine ideal: Die Süße verleiht Frucht und Würze ein Volumen ohne Vordergründigkeit. Überdies – und dies gilt auch für gereifte trockene Weißweine – sind die Aromen um »tertiäre« Noten bereichert,  also um solche, die durch Oxidation zustandekommen. Zudem ist die weineigene Würze komplett aufgeschlossen. Diese Komplexität reifer Weißweine schafft zahlreiche Berührungspunkte mit hochwertigen Speisen: etwa zu jodigen Meeresaromen oder auch zum typisch herben Geschmack eines Wildbrets.
Dabei stellt die Absicht, den Weinen eine verlängerte Reifeperiode entweder im Fass (als »Réserve«) oder auf der Flasche (als »Late Release«) zu gönnen, durchaus eigene Anforderungen an die Kelterungsweise. Werden viele Standardweine kellertechnisch so behandelt, dass sie schon so früh wie möglich attraktiv erscheinen, geht die Weinbereitung für Réserve- und Late-Release-Weine einen komplett anderen Weg. Hier wird alles auf größtmöglichen Extrakt und langsame Entwicklung des Weins angelegt.
»Ein Schlüssel zur Reifebeständigkeit liegt im Hefeausbau«, sagt mit Ernie Loosen ein Winzer, der seit 2011 neben seinen »normalen« Großen Gewächsen aus Weh­lener Sonnenuhr, Ürziger Würzgarten und Erdener Prälat auch Reserve-Qualitäten dieser Lagen auf den Markt bringt. »Mein Großvater väterlicherseits, der aus Ürzig stammte, hat ausschließlich trockene Weine gemacht. Leider haben wir keine Aufzeichnungen mehr, weil nach dem Krieg alles Papier verheizt wurde, aber es ist ganz klar, dass der Opa seine Weine sehr lang auf der Vollhefe gelassen hat. Vor ein paar Jahren kam mal ein alter Kunde meines Vaters und brachte einen trockenen 1947er-Würzgarten mit. Das hat mir die Augen geöffnet.«

Früher ging nichts ohne Reife

Derzeit lässt Loosen die Reserven zwei Jahre im Fass, beim Ürziger Würzgarten plant er nun, den Hefeausbau sogar um ein drittes Jahr zu verlängern. Beim Erdener Prä­lat wiederum wird er die Erzeugung des Weins mit zwölfmonatigem Ausbau komplett einstellen und ab dem Jahrgang 2017 die ge­samte Menge an trockenem Wein nur noch als Reserve ausbauen.
Ein Blick in alte Versteigerungskataloge und landwirtschaftliche Schriften zeigt überdies, dass früher die Weine beileibe nicht nur an der Mosel und im Rheingau viel länger als heute gelagert wurden. Im Frühjahr 1850 beispielsweise führt das »Großherzoglich Badische landwirtschaftliche Wochenblatt« bei den aktuellen Preisen für »reingehaltene und aus gutem Rebsatze gezogene Weine« einen Preis für 1834er Staufenberger Klingelberger (also Riesling) auf. Selbst die Preise für gemischten Satz und Gutedel betreffen Weine aus dem Jahrgang 1846 – also dreieinhalb Jahre alte Weine.
Einer ähnlichen Philosophie folgt auch heute noch der Nikolaihof in Mautern in der Wachau. So findet sich im aktuellen Angebot das Riesling Federspiel Vom Stein aus 2011, das erst nach sechs Jahren Fass­reife abgefüllt wurde, und das Grüne Veltliner Federspiel Vom Weingebirge 2010, welches gleich sieben Jahre im Fass heranreifen durfte. Noch spannender wird es bei den Weinen mit der Bezeichnung »Vinothek«. Der aktuell verfügbare Nikolaihof Riesling Vinothek stammt aus dem Jahr 2002 und ruhte 16 Jah­re in einem 3500-Liter-Holzfass, der Wein präsentiert sich heute nuancenreich und ungemein jugendlich.

Österreichs erster 100-Parker-Punkte-Wein

Im Jahr 2014 sorgte der Riesling Vinothek 1995, der 17 Jahre im Fass schlummerte, für Österreichs ersten 100-Parker-Punkte-Wein. Zwar bildet der Nikolaihof mit seinen Late Releases in Österreich noch eher die Ausnahme von der Regel, allerdings arbeiten etwa die Traditionsweingüter Österreichs und die Winzer der Steirischen Klassik da­­ran, durch entsprechende Regeln die Reife der Top-Lagen-Weine vor Inmarktbringung verbindlich zu verlängern. So dürfen beispielsweise als Reserve, Privat, Fassreserve, Vinotheksfüllung etc. bezeichnete Große-STL-Lagen-Weine frühestens nach 30-monatigem Ausbau auf den Markt kommen. Zusätzlich bieten engagierte Winzer immer öfter in kleineren Mengen in Flaschen gereifte Weine an, die bereits einige Jahre früher als Jungwein vermarktet wurden. Dazu zählt zum Beispiel die Edition Late Release des Tegernseerhofs in der Wachau – gedacht für die Gastronomie, um die kulinarische Qualität perfekt gereifter Weine zu vermitteln.

Beginn im Verborgenen

In Südtirol ist die Kellerei Terlan für ihre gereiften Weißweine bekannt. Der Anfang des Jahres verstorbene legendäre Kellermeister Sebastian Stocker erkannte bereits in den 1950er-Jahren das große Lagerpotenzial der Weine. Ohne Wissen des Vorstands legte er Jahr für Jahr etliche Flaschen zur Seite. Nach mehreren Jahren ­präsentierte er diese Weine seinen Mitar­beitern. Das Erstaunen war groß. Diese »Rarität«-Weine werden zuerst im großen Holzfass ausgebaut und reifen dann im Stahltank weiter. Dieses Jahr kam ein wunderbarer Weißburgunder Jahrgang 2005 in den Verkauf, vergangenes Jahr kamen die Terlaner gar mit einer 1991er-Cuvée aus Weißburgunder, Chardonnay und Sauvignon Blanc heraus. Und im Keller lagert sogar noch ein Fass Weißburgunder 1978!
Einer der wenigen Schweizer Winzer, die Weißweine erst nach Jahren auf den Markt bringen, ist Louis Bovard aus dem Waadtland. Von seinem Spitzenwein, dem Dézaley Medinétte, legt er immer knapp 1500 Flaschen zurück, um sie über Jahre hinweg zu beobachten und den perfekten Zeitpunkt für die Veröffentlichung zu finden. Etwa zwei- bis dreimal im Jahr verkostet er die Weine gemeinsam mit Journalisten, Sommeliers und anderen Experten. Ist ein Wein bereit, wird er auf den Markt gebracht. Begonnen hat er damit vor knapp 25 Jahren, mit dem Ziel das Reifepotenzial der Rebsorte Chasselas zu propagieren.
»Die Leute waren immer überrascht, wenn ich ihnen einen zehnjährigen Chasselas zu probieren gab, denn der Ruf der Sorte war damals recht schlecht«, erzählt er uns. Mit der Zeit ähnle der Dézaley seiner Ansicht nach immer mehr einem gereiften Marsanne aus dem französischen Hermitage. Etwas, das man von den oftmals harmlosen Chasselas-Weinen nicht vermuten würde. Aktuell sind die Jahrgänge 2006 und 2008 auf dem Markt. Die Kundschaft für diese Weine sind jedoch weiterhin Liebhaber und Experten, denn in der breiten Masse ist das Reifepotenzial des Chasselas noch nicht gänzlich angekommen.
Wie Bovard haben auch die anderen Winzer, die den Reiz reifen Weißweins populär machen möchten, noch viel Arbeit vor sich. Im schnelllebigen Kontext unserer Tage ist es keine Kleinigkeit, die Trinkgewohnheiten zu verändern. Doch der stille Charme der gereiften Typen macht gegenüber den starken, eindeutigen Reizen junger Weine mehr und mehr Boden gut.
All jene, die auf der Suche nach Zwi­schen­­­tönen sind, dürfen die aktuelle Entwicklung daher mit Neugier verfolgen. Und nicht zuletzt für die Winzer selbst entsteht ein höchst wilkommener Nebeneffekt, wenn ein Teil ihres Geschäfts entschleunigt wird: »Die Verkäufe aus der Vintage Collection«, gibt etwa Tom Drieseberg zu Protokoll, »ersetzen mir dieses Jahr komplett die Frostschäden aus dem Jahrgang 2017.«

Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2018

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Ulrich Sautter
Ulrich Sautter
Wein-Chefredakteur Deutschland
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