Falstaff icons: Leica - neu belichtet

Eine Kamera, die schon ausgeknipst hatte, wurde von einem Waldorf-Lehrer wieder in den Sucher der Fotografen gebracht.

In der Wirtschaft gibt es selten Märchen. Doch die wundersame Wiedergeburt des Kameraherstellers Leica ist so eines. Die Marke mit dem forschen roten Punkt und dem Namen in weißer, stolz geschwungener Schrift darunter war vor knapp sieben Jahren praktisch tot. Filmriss, ausgeknipst. Doch dann kam der Retter – in Gestalt eines Salzburger Hobbyfotografen und Lehrers der Waldorfschule. Was für ein Bild von einem heldenhaften Retter. Doch Leica hatte Glück, denn Andreas Kaufmann war nicht nur ein Lehrer, der junge Menschen zu einem besseren Leben, frei von den kommerziellen Zwängen des normalen Alltags, führen wollte, sondern er war auch ein Mann, der zeigen konnte, dass es dieses bessere Leben auch wirklich gibt.
Also kaufte er Leica, jenes Digitalisierungsopfer der aufstrebenden modernen Fototechnik der Neunzigerjahre, das in den Händen der größten Fotografen des 20. Jahrhunderts die berührendsten, beklemmendsten, befreiendsten und schönsten Momente des Lebens in Bildern festgehalten hatte. Ob es der Kuss des amerikanischen Soldaten und einer Krankenschwester am Times Square war (Foto rechts) oder das weinende Mädchen, das im Vietnam-Krieg nackt mit hilflos rudernden Armen vor einem Napalmangriff flieht. Beide Fotos sind Ikonen der Fotografie: das eine, weil es die Freude über das Ende des Krieges zeigt, das andere, weil es dazu beigetragen hat, dass ein Krieg beendet wurde.

Am »V-J Day«, dem Tag der Kapitulation Japans, sah der Fotograf Alfred Eisenstaedt einen Matrosen den Times Square entlanglaufen und jedes Mädchen an sich ziehen, das er sah. Es machte keinen Unterschied, ob sie eine Großmutter war, stämmig, dünn oder alt. Eisenstaedt lief vor ihm mit seiner Leica und blickte zurück über die Schulter. Aber keines der möglichen Bilder gefiel ihm. Dann sah er plötzlich, wie der Matrose sich blitzartig etwas Weißes griff. Er drehte sich um und erwischte den Moment, in dem der Matrose eine Krankenschwester küsste. Alles geschah in wenigen Sekunden mit einer Belichtungszeit von 1/125 Sekunde und einer Blendenöffnung von 5,6 bis 8. Das Foto erschien auf der ersten Seite des »Life Magazine«. Der Titel: »Kissing the War Goodbye« / Foto: Alfred Eisenstaedt / WestlichtVor dem Bankrott gerettetDoch der Reihe nach: Das Märchen von Leica beginnt mit »Es wird wieder sein«. Ernst Leitz II., dessen Vater 1865 das Unternehmen übernommen hatte, gab 1924 den Startschuss für die erste Serienfertigung. Doch der Erfolg hielt sich in Grenzen, das Traditionshaus aus Solms in der hessischen Provinz war fast bankrott. Kaufmann aber butterte Dutzende Millionen Privatvermögen hinein. Auch wenn das wie ein Märchen klingt – er konnte es sich leisten. Jahrzehntelang baute man Kameras für die Ewigkeit, Handarbeit made in Germany. Die Digitalisierung jedoch fegte diese Werte fort. Canon, Nikon und Sony werfen in immer kürzeren Abständen immer höher entwickelte Geräte auf den Markt. Zwar entwickelte Leica als erster Kamerahersteller den Autofokus, ignorierte die neue Technik aber, bis Minolta 1985 damit die Kamerawelt veränderte. 1989 diskutierte man in Solms schon über Digitalkameras, aber erst 1996 brachte Leica eine auf den Markt und ließ die Sache wieder einschlafen. 1998 starb Kaufmanns Tante Harriet Hartmann, die gemeinsam mit ihrem Mann den Papierkonzern Frantschach besaß. Andreas Kaufmann und seine beiden Brüder erbten das Vermögen. Für Andreas Kaufmann stellte sich nun die Frage, weiter Waldorf-Lehrer zu bleiben oder mit dem, was ihm zugefallen war, etwas zu gestalten. Kaufmann entschied sich für Letzteres. 2001 gründet er mit seinen Brüdern die ACM Projektentwicklung. Die Holding kauft sich 2004 mit 27,4 Prozent bei Leica ein, größter Aktionär damals ist Hermès International. Als sich die anderen Hersteller im selben Jahr auf der weltgrößten Fotomesse, der Photokina in Köln, mit Digitalkameras überbieten, heften sich Leica-Manager einen Button ans Revers: »Ich bin ein Filmdinosaurier.« Doch bei Leica häufen sich die Verluste, für Innovation fehlt das Geld. Die Brüder ahnen, dass es schwierig wird, denn Leica ist in desolatem Zustand. Kaufmanns Brüdern wird es bereits nach einem Jahr zu heiß, 2005 steigen sie bei ACM aus. Er aber glaubt an Leica und bleibt dabei. Ernst Leitz I., der Gründer des Unternehmens / Foto: beigestelltEr setzt den längst fälligen Aufholprozess nach der Übernahme in Gang: Mit der Vorstellung der digitalen Leica M8 beginnt die Erholung, mit dem verbesserten Nachfolgemodell M9 landet man einen Hit. Es ist die kleinste Systemkamera der Welt, die über einen Vollformatsensor verfügt. Mit 18 Millionen Pixel wird das Format optimal ausgenutzt, ohne Abstriche. Die Kamera ist auf Monate hinaus ausverkauft. 2008 kommt ein völlig neues Kamerasystem hinzu, die Leica S2. Für die einstige Ikone der klassischen Fotografie öffnet sich eine völlig neue Welt – auch dank der Leica-Fans, die bereit sind, exorbitante Preise zu bezahlen. Die S2 kostet beispielsweise 18.000 Euro – nur das Gehäuse. Trotzdem kommt man mit der Produktion nicht nach, die Nachfrage ist gewaltig. Für die Sucherkamera M9 verlangt der Hersteller knapp 6.000 Euro, für ein Weitwinkelobjektiv zahlt man fast noch einmal so viel, ein Normalobjektiv kostet mindestens 1.200 Euro. Dazu kommen die Digitalkameras, die man in Zusammenarbeit mit Panasonic entwickelt: Sie sind in Teilen baugleich, Leica stimmt lediglich die Software und die Einstellungen für die Kameras mit dem roten Leica-Punkt ab. Den Kunden ist das einen Aufpreis von bis zu 100 Prozent gegenüber dem Panasonic-Produkt wert. Zahlreiche SonderserienTeil des Mythos der Marke sind die diversen Sonderserien, die es seit 1929 gibt: eine Leica in Gold (1929), eine M9 Titanium in Walter-de-Silva-Design, eine anlässlich des Jahrestags der VR China, eine zum Jahrtausendwechsel. Leica-Fans lieben diese Sonderserien. Für die Käufer ist es auch eine Investition: Bei Auktionen zahlen Sammler regelmäßig Rekordpreise für die Serien. Leica-Kameras sind mittlerweile ein Mythos. Eine Leica ist für einen Fotografen, was ein Porsche für einen Autofahrer ist. Niemand möchte einmal im Leben einen Hyundai fah­ren. Man möchte einmal im Leben einen Porsche fahren.Und durch diesen Mythos hat Leica wieder eine Größe erlangt, bei der das Unternehmen kein reiner Familienbetrieb mehr sein kann. Also startet Kaufmann »Phase zwei«. Kaufmann trennt sich von 44 Prozent seiner Anteile, und der US-Finanzinvestor Blackstone steigt 2010 bei Leica ein. Mit dessen Unterstützung will der Kamera-Hersteller neue Märkte in den USA, Asien und Südamerika erschließen. Natürlich profitiert von dem Blackstone-Einstieg auch Kaufmann. Aber weitere Anteile wird er nicht mehr abgeben. Im Gegenteil. Am ursprünglichen Firmenstandort in Wetzlar entsteht bis 2014 ein knapp 30.000 Quadratmeter großes Werk. Auch in Portugal wurde ein Produktionswerk errichtet. Denn man kommt mit der Fertigung nicht mehr nach. Bei Leica wird kräftig investiert. Denn Mythen müssen gepflegt werden – auch um die ständig wachsende Leica-Community bei Laune zu halten. In Salzburg wurde vor Kurzem die weltweit 80. Leica-Boutique eröffnet. In Beverly Hills sperrt der erste Leica-»Superstore« auf. Und zuletzt hat sich Firmenbesitzer Kaufmann an »I shot it« beteiligt, der am schnellsten wachsenden Online-Plattform für Fotografen in aller Welt. Ein bemerkenswerter Weg für einen Waldorf-Lehrer und Erben einer Papierdynastie.Text von Thomas MartinekAus Falstaff Deutschland 06/13

Thomas Martinek
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