Essen aus der Retorte

Der umstrittene Burger aus Kunstfleisch war erst der Anfang. Weltweit wird derzeit in über 50 Instituten an Lebensmitteln aus dem Reagenzglas geforscht.

Als sich die Polarforscher nach langer Suche dem versteckten Landeplatz nähern, gehen ihre Vorräte bereits bedrohlich zur Neige. Es ist das Jahr 1897 und Bewohner des Mars statten der Erde einen Besuch ab. Es sind friedfertige Lebewesen, die den Menschen in allen Dingen weit überlegen sind. Freundlich nehmen sie die Erdlinge in ihrem Raumschiff auf und stillen deren Heißhunger. Eines der technischen Wunder, welche die Außerirdischen mitgebracht haben, sind Automaten, die an Ort und Stelle Nahrungsmittel künstlich produzieren können und auch mitten in der Eis­wüs­te auf Knopfdruck Wurst um Wurst auswerfen. So jedenfalls schilderte es der Physiker Kurd Laßwitz, der Vater der deutschsprachigen Science-Fiction, in seinem fantastischen Roman »Auf zwei Planeten«. So eine kühne Prophezeiung hatte bis dahin noch kein Zukunftsdenker, auch nicht der erfinderische Zeitgenosse Jules Verne, gewagt: Leckere Fleischhappen, die keinen tierischen Ursprung haben, sondern auf geheimnisvolle Weise von einer Maschine fabriziert werden.

In-vitro-Burger
Futter, das aus der Retorte stammt, ist ein alter Traum des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Doch nun nimmt diese Utopie konkrete Züge an. Einen großen Schritt näher kamen ihr die Lebensmittelforscher im August vergangenen Jahres bei einer spektakulären Verkostung in den Londoner Riverside Studios. In einer Pfanne brutzelte dort ein Leckerbissen aus Frankensteins Küche: ein Burger, für den kein Rind hatte geschlachtet werden müssen. Der fast fettfreie, 140 Gramm schwere Klumpen, der verführerisches Bratenaroma verströmte, bestand aus rund 20.000 schmalen Streifchen von Muskelgewebe, die aus einer einzigen Stammzelle herangewachsen waren. In einer Nährlösung hatte sich dieses Molekül im Inkubator immer weiter reproduziert. Theoretisch erlaubt diese In-vitro-Methode grenzenlose Produktion – eine Zelle könnte sich innerhalb kurzer Zeit zu Tonnen an Fleisch vermehren.

Tierische Inhaltsstoffe werden durch pflanzliche Aromen ersetzt / © iStock
Tierische Inhaltsstoffe werden durch pflanzliche Aromen ersetzt / © iStock

Lösung aller Probleme
In der Vorstellungskraft vieler Tierschützer werden dadurch die Probleme der modernen Massentierhaltung gelöst. Umweltschützer glauben, künftig werde sich so der ökologische Tribut, den gewaltige Nutztierherden fordern, vermeiden lassen. Ernährungswissenschaftler kalkulieren, dass sich so der rasant wachsende Fleischhunger der Milliarden in den Schwellenländern stillen lassen könnte. Und alle, die vegetarische oder vegane Lebensweise propagieren, hoffen, dass bald kein Tier mehr sterben muss, weil es das Raubtier Mensch nach jenem proteinreichen Nahrungsmittel gelüstet, das es seit Menschengedenken verschlingt.

Biomediziner als Laborbauern
Seit einigen Jahren arbeiten Bioingenieure, die in ihren Labors Nahrungsmittel erzeugen wollen, auf einem der heißesten Forschungsfelder der Naturwissenschaft. Viele von ihnen kommen aus der Biomedizin, wo es bereits zur Routine gehört, aus Zellen Organteile, Haut oder Knorpel heranzuzüchten. Die zu Laborbauern gewandelten Biomediziner sehen in ihrer neuen Aufgabe eine Fortsetzung der alten: Medizin für den Patienten Erde. An rund 30 Forschungsstätten weltweit wird gegenwärtig nach Methoden gesucht, Laborfleisch in relevanten Mengen zu züchten. Auch an der Wiener Universität für Bodenkultur ist solch ein Projekt unterwegs: Hier will der Lebensmitteltechnologe Konrad Domig nach dem In-vitro-Verfahren Hühnerschnitzel herstellen. Für diese utopische Schlemmerei hat er sogar den fleischverarbeitenden Betrieb Neuburger und den Großmetzger Radatz begeistern können, Risikokapital beizusteuern.

Forscher versprechen, dass Laborfleisch eines Tages gesünder und billiger sein wird als Ware vom Schlachthof / © Shutterstock

Aus einem neuen Industriezweig Profit schlagen
Ein Zentrum dieser neuen Sparte der Lebensmittelindustrie befindet sich in Kalifornien. Dort sitzen auch die Geldgeber, welche die teuren Entwicklungskosten finanzieren. Es sind Risikokapital-Fonds, die zuvor ihre Millionen in die digitale Wunderwelt des Silicon Valley gepumpt haben. »Vielleicht«, mutmaßte die »New York Times«, »landet ja das nächste große Ding im technologischen Fortschritt nicht auf einem Smartphone, sondern in der Pfanne.« Die technikgläubigen Investoren wittern fette Profite in einer Branche, deren Ziel es ist, mit gesünderen Produkten, die umweltschonend hergestellt werden, die Lebensmittelindustrie zu verändern. In einer Reihe von Biobastelstuben sollen neue Lebensmittel erfunden werden, bei denen tierische Ausgangsprodukte durch pflanzliche ersetzt werden. Beispielsweise wurde in einem der Futterlabore eine Käsesorte kreiert, die aus einem Gemisch von Mandelmilch und der Milch der Macadamia-Nuss erzeugt wird. In einigen kalifornischen Biosupermärkten liegen die laktosefreien Stinker bereits in den Regalen.

Mayonnaise ohne Ei
Noch weiter voraus auf dem Weg zur Zukunftsküche ist ein Start-up-Unternehmen, das ein Visionär gegründet hat, der zuvor viele Jahre als Entwicklungshelfer in Afrika tätig war. »Bei unserer Lösung für das total verfahrene System der Lebensmittelversorgung«, erklärt Josh Tetrick, »entfernen wir ein Produkt, das nicht notwendig ist, und ersetzen es durch ein besseres.« Aus einem guten Dutzend von Pflanzen, darunter Erbsen, Bohnen, Mohrenhirse (Sorghum) und pflanzlicher Gummi, entwickelte er deshalb ein gelbliches Pulver, das künftig in der Nahrungsmittelindustrie anstelle von Eiern Verwendung finden soll. Das Ei des Kolumbus: Es verschwindet. Das erste Produkt, das nach dieser Maxime hergestellt wird und bereits erhältlich ist, heißt »Like Mayo« und ist die erste dotterfreie Mayonnaise der Welt. Einige Nahrungsmittel-Konzerne setzen das Ersatzpulver auch bereits im Probebetrieb bei der Herstellung von Backwaren ein. »Das Ding wird die ganze Industrie auf den Kopf stellen«, prophezeit ein Risikofonds-Manager.

Den gesamten Artikel inklusive einem Interview mit dem Wiener Aromenforscher Michael Diewald lesen Sie in der aktuellen Ausgabe des Falstaff Magazins Nr. 01/2014 – Jetzt im Handel.

Text von Joachim Riedl 

Joachim Riedl