© Gina Mueller

Essay: Des Essers neue Freuden

Köche liefern sich einen Überbietungswettbewerb. Die Claqueure wetteifern, wer am schlauesten über alles reden kann. Ein Zwischenruf – die moderne Version des Märchens »Des Kaisers neue Kleider«.

Mitten im Land lebte ein reicher Mann, der gutes Essen so sehr liebte, dass er fast all sein Geld dafür ausgab. Er aß ohne Unterlass feine Gerichte und besuchte unzählige erstklassige Restaurants. Eines Tages kamen drei Betrüger in die Stadt, in der dieser Gourmet wohnte. Sie gaben sich als Köche aus und sagten, dass sie die köstlichsten Gerichte zubereiten könnten. Nicht nur der Geschmack wäre ungewöhnlich gut, sondern die Gerichte besäßen eine wunderbare Eigenschaft: Sie seien für jeden unsichtbar, der nichts von gutem Essen verstehe oder unverzeihlich dumm sei.

Patagonischer Riesenkrill

»Das wären ja großartige Teller«, dachte der reiche Mann. »Wenn ich sie servierte, erführe ich, wer in meiner Bekanntschaft nichts über Essen weiß. Ja, diese Gerichte müssen sofort für mich gekocht werden«. Und er gab den dreien viel Geld, damit sie kostbare Waren kauften. Die Betrüger aber steckten das Geld in die eigenen Taschen. Dann gingen sie in die große, teure Küche des Gourmets und taten, als ob sie kochten. Aber sie hatten nichts in den Töpfen. »Ich möchte wissen, wie weit sie sind«, sagte sich bald der Gourmet. Doch er hatte ein mulmiges Gefühl, wenn er daran dachte, dass Dumme und Ignoranten das Essen nicht sehen könnten. Und so schickte er seinen Gastronomie-Feuilletonisten-Freund zu den Köchen, um zu erfahren, wie es stände.
Der alte Schreiberling ging in die Küche. »Gott behüte uns!« dachte er und raufte sich das lange, schüttere Haar. »Ich kann nichts erblicken!« Laut sagen wollte er das allerdings nicht. Die Betrüger fragten, ob er nicht angetan sei von der Schönheit des handgetauchten geringelten Riesenkrills aus Patagonien und vom Duft der bei Vollmond geernteten tadschikischen Berghirse. Sie zeigten auf die leeren Töpfe, und der Arme fuhr fort, die Augen aufzureißen. Aber er konnte nichts sehen, denn es war nichts da. »Sollte ich dumm sein?«, dachte er. »Das darf kein Mensch wissen.« Und so verkündete der Schreiberling: »Ich werde dem Gourmet sagen, dass es mir sehr gefällt.« »Das freut uns!«, erwiderten die Betrüger.
Darauf nannten sie ihm alle 137 Zutaten aus 79 Ländern mit Namen und erklärten wortreich die prachtvolle Aromen-Architektur. Am nächsten Tag sandte der Gourmet einen ihm bekannten Koch, um zu sehen, ob das Essen fertig sei. Diesem, einem Meister der kulinarischen Innovation, ging es wie dem ersten Gourmet. Er suchte mit den Augen. Weil aber außer leeren Töpfen nichts in der Küche stand, konnte er nichts sehen. »Ist das nicht ein schönes Stück Fleisch?«, fragten die Betrüger und erläuterten das Gericht, das nicht da war. »Das ist 99 Stunden und vier Minuten bei 38,4 Grad in Schwerelosigkeit gegarte Antilope. Wir haben das Fleisch dehydriert, pulverisiert, zentrifugiert, ionisiert und rekonstruiert. Dann haben wir es mit seinem reduzierten, fermentierten, oxidierten und homogenisierten Saft glasiert.«
»Dumm bin ich nicht!», dachte der Meisterkoch. »Tauge ich also nichts in meinem Beruf? Das wäre komisch. Jedenfalls darf ich mir nichts anmerken lassen!« Und so kostete er das Gericht, das er nicht sah, lobte es und versicherte ihnen seine Freude über die überwältigenden Geschmacksakkorde. »Ja, es ist hervorragend!«, sagte er darauf zum reichen Mann.

© Gina Mueller

Huhn von Mutter Erde

Dieser schickte einen weiteren Freund in die Küche, einen Blogger, der sich schon in unzähligen Restaurants hatte verköstigen lassen. Auch er war nicht imstande, etwas in den Töpfen zu sehen. Wie seine Vorgänger fürchtete er nichts so sehr wie das Urteil, er sei dumm oder verstünde nichts vom Essen. »Was ist denn diese Köstlichkeit?«, fragte er die Betrüger. Sie antworteten: »Das ist unser Meisterstück: Huhn vom Ba(ä)uerInnen-Kollektiv ›Mutter Erde‹. Dort wird gender-neutrale Tierhaltung praktiziert. Alle Mitarbeiter/Innen sind in Aggressionsprävention geschult. Die Hühner werden sanft in den ewigen Schlaf gestreichelt.« »Unvergleichlich«, sagte der Blogger, der nichts sah. Was die Beilage sei? »Das ist die Möhre Micha. Das Kollektiv gibt jeder Möhre einen Namen, liest ihr allabendlich ein nachbearbeitetes, diskriminierungsfreies Märchen vor, gießt sie mit gefiltertem Regenwasser aus Naturschutzgebieten und bringt sie CO2-neutral mit dem Fahrrad in die Stadt.« Der Blogger pries die Betrüger für ihre Tugendhaftigkeit, kehrte zum Gourmet zurück und sagte: »Ein so eindrucksvolles Mahl habe ich noch nie gekostet.«
Nun wollte der reiche Mann alles selbst sehen. Mit seinen Freunden ging er zu den listigen Betrügern, die mit allen Kräften kochten – aber ohne jede Zutat. »Ist das nicht herrlich?«, sagten die drei, die schon da gewesen waren. »Wie das duftet!« Dann deuteten sie auf die leeren Töpfe, denn sie glaubten, dass die jeweils anderen das Essen sehen könnten. »Ich erblicke nichts!« dachte der Gourmet. »Das ist schrecklich! Bin ich dumm? Bin ich kein wahrer Feinschmecker? Das wäre das Schlimmste, was mir geschehen könnte!« Er überlegte schweigend. »Ich bin überwältigt«, sagte er schließlich und nickte zufrieden. Der Gourmet verlieh den Betrügern den Titel: »Kreativste Kochkünstler der Welt«. Zu guter Letzt riet man ihm, die neuen Gerichte bei dem großen Bankett zu servieren, das er bald abhalten wollte.
Die ganze Nacht vor dem Bankett waren die Betrüger beschäftigt. Sie taten, als parierten sie Antilopen oder putzten Möhren. Sie schnitten mit Messern in die Luft. Sie blanchierten und frittierten in Töpfen ohne Inhalt. Zuletzt riefen sie: »Voilà, das Menü ist fertig.« Und holten den Gourmet und seine Freunde in die Küche. Jedes Gericht sei so leicht – man könne glauben, man habe nichts auf der Zunge, sagten sie. »Eben das ist das Einzigartige an unserem Essen!« »Fantastisch!« staunten die vier. Aber sie konnten nichts sehen, denn es war nichts da. Die Betrüger stellten nun die Teller auf den Tisch. Der Gourmet setzte sich, nahm Messer und Gabel, kaute konzentriert, schluckte und sah die Betrüger ehrfürchtig an. Ein glückseliges Lächeln erstrahlte in seinem Gesicht und er jubelte: »Wie einzigartig gut das schmeckt!«
»Draußen warten die Gäste des Banketts und ihre Familien«, meldete ein Bediensteter. Der reiche Mann blickte noch einmal auf die leeren Teller, denn es sollte scheinen, dass er sich an allem sehr erfreute. Dann begab sich die ganze große Gesellschaft zu Tisch und alle sagten: »Grandios, dieses neue Menü!« Keiner wollte zugeben, dass er nichts erblickte, denn dann hätte er ja nichts von gutem Essen verstanden oder wäre sehr dumm gewesen. Noch nie hatte eine Einladung des Gourmets seine Gäste so glücklich gemacht!
»Aber da ist ja gar nichts auf den Tellern!« rief plötzlich laut ein Kind. »Hört doch, lauscht des Unschuldigen Stimme!«, sagte der Vater. Und sofort zischelte der eine Gast dem anderen zu, was das Kind gesagt hatte. »Da ist nichts auf den Tellern!«, schrien zuletzt die Gäste im Chor. Das erschreckte den Gourmet, denn er hatte den Eindruck, sie hätten recht. Aber er dachte bei sich: »Ich verlöre mein Gesicht, wenn ich das zugäbe. Nein, ich muss durchhalten und weiter mit Vergnügen speisen.« Also blickten er und seine drei Feinschmecker-Freunde noch verzückter drein und fuhren fort, Gerichte zu essen, die nicht da waren.

Erschienen in
Falstaff Nr. 04/2018

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Christoph Teuner
Christoph Teuner
Redakteur
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