Ein Glas verändert die Weinwelt

Falstaff präsentiert die ultimativen Stilikonen. Diesmal: Riedel. Der Tiroler Glasproduzent hat für jeden Wein das perfekte Glas geschaffen.

Es war ein mutiger Sprung: Claus Riedel setzte sein Leben aufs Spiel, als er 1946 kurz vor dem Berg-Isel-Tunnel aus einem fahrenden Zug sprang. Der Krieg war vorbei, und Riedel sollte mit einem Gefangenentransport über den Brenner nach Italien gebracht werden. Er schaffte den Sprung – den damals in der Nacht des 16. März vom Güterwaggon und auch den Sprung zum erfolgreichen Glasproduzenten, der das Weinglas revolutionierte. Durch ihn wurde es zum Kultobjekt. Claus Riedel schuf das Glas für die Sinne, für den ultimativen Weingenuss.Mit finanzieller Hilfe der Familie Swarovs­ki hatte Claus Riedel 1954 die Chance, die Tiroler Glashütte aus dem Konkurs zu übernehmen. 1955 kam auch sein Vater Walter aus russischer Gefangenschaft zurück, gemeinsam errichteten sie die Tiroler Glashütte als Manufaktur. 1956 wurde die Produktion in Kufstein unter dem Namen Riedel-Glas wieder aufgenommen.

Das schönste Glas der Welt
Gleich zu Beginn stellte sich die Frage nach dem Zusammenhang von Funktion und Ästhetik. Dabei fand Claus Riedel (neunte Generation des Familienunternehmens) heraus, dass bisherige Gläser völlig ungeeignet waren, edle Weine zur Geltung zu bringen. Die Form ergibt sich aus der Funktion – mit dieser Erkenntnis über das Zusammenspiel von Kelchform und Genuss wurde er weltweit zum Begründer des »funktionalen Weinglases« und Erneuerer der internationalen Weinkultur. Er entdeckte vor rund 40 Jahren als Erster, dass die Glasform den Geschmack des Weins beeinflusst. Zunächst wurden die fragilen Glaskreationen belächelt, doch bald folgten Auszeichnungen – so wurde etwa das Glas »Exquisit« in die Ausstellung »Schönstes Glas der Welt« im Corning Museum of Glass aufgenommen. Und das Burgunder Grand Cru steht heute im MoMA. Bis heute gilt: Die dünne Wandstärke der Gläser bei hoher Stabilität ist ein Qualitätsmerkmal. Je dicker das Glas, desto stärker überträgt sich die Temperatur des Glases auf den Wein. Ist das Glas dünn, kann man die Temperatur des Weins unmittelbar erleben. Claus Riedel wurde bald als »Glasprofessor« bezeichnet, weil er die Gläser nach wissenschaftlichen Kriterien entwarf: Größe, Form und Mundranddurchmesser sind exakt auf die Duftentfaltung abgestimmt, und die Kelchform ist entscheidend für den Geschmack des Weins, denn durch diese trifft der Wein in verschiedenen Zonen im Mund auf – eine bahn­brechende Erkenntnis.

Maximilian Riedel: Er führt das Unternehmen in elfter Generation / Foto: beigestelltGoldfischglasFür den Österreichpavillon bei der Weltausstellung 1958 in Brüssel entwarf Claus Riedel eine Glasserie. Darunter war ein Burgunder-Glas mit dem Fassungsvermögen einer ganzen Flasche. Spötter bezeichneten es als »Goldfishbowl«. Das englische Weinmagazin »Decanter« beschrieb es hingegen als »The finest Burgunder glass of all times, suitable for both young and old burgundies«. Aber die wohl höchste Auszeichnung für dieses Glas: Das Museum of Modern Art in New York zeigt es in seiner permanenten Ausstellung. 1973 entwickelte Claus Riedel zusammen mit der italienischen Sommeliersvereinigung ASI »Sommeliers« die erste Gourmetglas­serie der Welt. Zunächst aus zehn Größen bestehend, ist sie heute den Weinsorten entsprechend stark angewachsen. Zu ihrem 40. Geburtstag ist die Glasserie »Sommeliers« noch immer das Nonplusultra für jeden Weingenießer. Das Besondere an diesen Gläsern: Sie sind alle mundgeblasen und handgefertigt. »Die feinsten Gläser für technische sowie hedonistische Zwecke werden von Riedel gefertigt. Die Wirkung dieser Gläser auf den Wein ist groß. Ich kann nicht oft genug betonen, welchen Unterschied sie machen«, sagt niemand Geringerer als Robert M. Parker.WelterfolgSohn Georg Riedel trug dieses Geschmacks­erlebnis in die ganze Welt und entwickelte das »funktionale Weinglas« des Vaters zum rebsortenspezifischen Glas weiter. Nachdem er 1994 das Ruder im Unternehmen übernommen hatte, expandierte Riedel in die USA, nach Kanada, Deutschland, Japan und Großbritannien. 97 Prozent der Produktion werden heute in 125 Ländern verkauft. Und regelmäßig reist er auch nach China. Neue ZielgruppenEin weiterer wichtiger Schritt: Georg Riedel verbreiterte in der zehnten Generation die Zielgruppe für seine Gläser. Aber er verließ dabei nie die Grundsätze seines Vaters, sondern schuf einfach bessere Möglichkeiten, die Gläser einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Was früher ausschließlich mundgeblasen wurde, kann jetzt auch in beinahe gleicher Qualität mit Maschinen gefertigt werden. Neben den exklusiven, nach wie vor mundgeblasenen Gläsern der Sommeliers-Serie werden preiswertere Gläser der Serien Vitis, Tyrol, Vinum, Wine oder Ouverture angeboten, die den wirtschaftlichen Erfolg der Glashütte garantieren.ExpansionGeorg Riedel machte die einstige Manufaktur zu einem Weltkonzern. Am 17. September 2004 übernahm Riedel 100 Prozent der Aktien der F. X. Nachtmann Bleikristall GmbH und mit ihr auch den unmittelbaren Mitbewerber Spiegelau. Die Marken Riedel, Nachtmann und Spiegelau firmieren unter dem Namen Riedel Glass Works. Die Unternehmensgruppe verfügt über eigene Vertriebsgesellschaften in den USA, in Großbritannien, Japan, Australien und China und ist weltweit in 125 Ländern vertreten. Nicht nur Wein alleinDoch die Zukunft gehört bei Riedel nicht dem Wein allein. Georg Riedel denkt inzwischen auch daran, sich intensiver mit dem Thema Wasser zu beschäftigen. Sein Vater mag das heutige Riedel-Weinglas erfunden haben und sein Sohn Maximilian (ebenfalls Geschäftsführer) die Weingläser ohne Stiel, er aber will es sein, der die Geschmacksknospen  für alkoholfreie Getränke öffnet, zum Beispiel mit Kaffee- und Wassergläsern. Trinke man Wasser aus dem passenden Glas, bleibe es viel länger im Mund und verteile sich besser in alle Richtungen. Wie eine Dusche. Der Geschmack mag sich dabei nicht verändern – aber das Mundgefühl und die Emotion.Glasblasen / Foto: beigestelltWIE EIN MUNDGEBLASENES GLAS ENTSTEHTUm aus dem 1200 Grad heißen Brei aus Glasbruch, Quarzsand, Bleioxid, Soda und Kalium Kelche für den Weingenuss zu zaubern, sind fünf Personen nötig: der Kölbelmacher, der Glasbläser, der Umdreher, der Glasmachermeister und der Kaier.Vom Kölbel- zum GlasmacherDie Arbeitsschritte greifen ineinander: Der Kölbelmacher zieht einen Tropfen Glas aus dem Schmelzofen, setzt ihn auf die Pfeife und formt ihn zu einer kleinen Blase. Dann reicht er die Pfeife an den Glasbläser, der sich mehr flüssiges Glas aus dem Schmelzofen fischt. Aufs Gramm genau – das ist die Kunst und braucht jahrelange Erfahrung. Dabei dreht der Glasbläser die Pfeife wie eine Gabel über dem Käsefondue, damit nichts herabtropft.Mit einer hölzernen Suppenkelle, dem »Wulgerholz«, formt er das Glas vor. Dann stellt er sich mit der Pfeife an einen Vorsprung über einer feuchten zweigeteilten Schale aus Birkenholz. Sie gibt die endgültige Form des Glaskörpers vor. Der Glasbläser hebt den Glastropfen hinein, bläst und dreht die Pfeife. Das in der Holzform verdampfende Wasser schützt das Glas wie ein Dampfkissen. Der fertige Kelch, der wie ein unförmiger Ballon immer noch an der Pfeife klebt, ist mittlerweile auf unter 700 Grad abgekühlt. Ihn übergibt der Glasbläser an den Umdreher. Dieser schwenkt die Pfeife und reicht sie an den Glasmacher weiter. Dieser passt Stiel und Boden an. Dafür erhält er von seinem Assis­tenten, dem Kaier, einen weiteren Tropfen glühenden Glases, den er auf der Unterseite des Kelchs platziert und mit einer Metallschere abschneidet. Hieraus formt er mit einer Holzschablone den Stiel durch Drehen der Pfeife auf dem Oberschenkel. Der Kaier setzt ein weiteres Tröpfchen Glas an, aus dem der Fuß des Glases entsteht.Das Finale im AbkühltunnelDas Glas wird von der Pfeife geschlagen, auf ein Fließband gelegt und für eineinhalb Stunden durch einen Abkühltunnel geschickt, bevor der Deckel per Laser vom Kelch getrennt und der Schnitt mit einer Gasflamme geglättet wird. Der Rand soll fein und kantig sein – um dem Wein mit all seinen geschmacklichen Nuancen entsprechen zu können. DIE TOP FIVE DER RIEDEL-SOMMELIERS-SERIERiedel Gläser / Foto: beigestellt1 Riesling Grand Cru bzw. Chianti Classico  In diesem eiförmigen Glas bleiben die Säure des Rieslings sowie seine Rasse und mineralische Würze erhalten. Der Weißwein verliert an Breite und Wucht (bei hohem Alkoholgehalt) und gewinnt so an Eleganz. Empfohlen u. a. für Riesling (Spätlese), Gewürztraminer, Smaragd (Spätlese trocken), Grünen Veltliner.Dieses Glas ist zugleich auch für Rotwein geeignet und stellt das »Chianti Classico«-Glas der Serie dar. Dieser Rotwein präsentiert sich darin mit den für die Rebsorte typischen Kirschnoten und Bittermandelaromen. Am Gaumen gewinnt der Wein durch diese Form an Frucht und Geschmeidigkeit, Säure und Tannin runden das Geschmacksbild ab. Empfohlen u. a. für Bardolino, Beaujolais Nouveau, Blauen Portugieser, Sangiovese, Zinfandel. 2 Bordeaux Grand Cru Der Entwurf stammt aus dem Jahr 1959. Die Größe mutet übertrieben an, doch die Weine präsentieren sich darin mit samtig-dichtem Körper, hoher Extraktkonzentration und süßen, runden Tanninen. Empfohlen u. a. für Bordeaux (rot), Brunello di Montalcino, Cabernet Franc, Cabernet Sauvignon, Rioja, Sangiovese, Sangiovese Grosso, Tempranillo.3 Reifer BordeauxDie Bouquetnoten erinnern an Pilze und Waldboden. Manchmal können die Düfte auch strenger ausfallen. Zu große Gläser würden diese Aromen überbetonen. Empfohlen für Bordeaux (gereift), aber auch Zweigelt.4 Hermitage Das Glas fördert den Duft, die Form verleiht dem Wein eine samtige Struktur mit ausgewogenem Geschmacksbild. Die Tannine werden in die Frucht eingewoben und verlieren den bitteren Geschmack am Gaumen. Empfohlen für Châteauneuf-du-Pape, Grenache, Hermitage, Mourvèdre und Syrah.5 Grüner VeltlinerSpeziell für diesen Wein wurde das Glas der Sommeliers-Serie aus Bleikristall handgefertigt und ist vor allem im deutschsprachigen Raum beliebt. Durch seine Form können sich Aroma und Duft bestens entfalten.

Text von Thomas Martinek
Aus Falstaff Nr. 01/2013

Thomas Martinek
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