Etwa 15.000 bis 30.000 mal atmen wir an einem Tag ein.

Etwa 15.000 bis 30.000 mal atmen wir an einem Tag ein.
© Gina Müller

Ein Fest für die Nase

Wir schnuppern Bratäpfel, Kekse oder Glühwein, und im Nu werden Erinnerungen wach. Weihnachten hat seinen eigenen Duft. Manche sagen gar, es ist eine besondere Riechzeit. Warum sitzen Gerüche so tief, und warum machen sie uns oft sprachlos?

»Gerüche gehen tiefer ins Herz als Töne und Bilder«, meinte Rudyard Kipling, Autor des »Dschungelbuchs«. Tatsächlich ist das Riechen eng mit Emotionen und Erinnerungen verbunden. Riechen wir Zimt, Nelken und Vanille, Kekse, Lebkuchen und Mandarinen, gebratene Mandeln und Maroni oder auch Weihrauch und Myrrhe, kommt Weihnachtsstimmung auf, und manche fühlen sich in längst vergangene Kindheitstage zurückversetzt. Denn Düften stehen wir nie neutral gegenüber.
Nehmen wir einen Geruch zum ersten Mal wahr, wird er sofort bewertet, mit der aktuellen Stimmung verknüpft und so abgespeichert. Kommt uns dann ein Duft erneut unter, erinnern wir uns an den Ursprung des ersten olfaktorischen Kontakts, an das Erlebnis, die verbundenen Assoziationen. So wird uns auch jetzt noch warm ums Herz, wenn wir wieder Düfte riechen, die mit Harmonie, Geborgenheit und Wärme einhergingen. Die Bewertung von Gerüchen ist anerzogen und von den eigenen Erfahrungen abhängig. Kommentieren Eltern die Hochkonjunktur an Duftkompositionen in der Weihnachtszeit mit: »Das riecht gut«, sind die Eindrücke sofort positiv gespeichert. Daher geht die Duftwelt im Advent und zu Weihnachten mit all den Gewürzen, Honig, Kerzen, Punsch und Braten bei vielen mit Wohlbehagen und Vorfreude einher. Wer aber mehrmals schlecht gelaunt Kletzenbrot vorgesetzt bekam, wird den Duft negativ einordnen. Die Geruchswelt ist zudem stark kulturell geprägt. So riechen Städte und einzelne Viertel ebenso anders, wie Weihnachten in Mitteleuropa anders riecht als in Afrika oder Amerika.

© Gina Müller

Sinn ohne Worte

Gerüche sind tief verankert. Wir erinnern und erkennen sie auch deutlich länger als Bilder. Aber: Uns fehlen oft die Worte. Wer kennt das nicht – etwa beim Weinverkosten? Wir schnuppern, wissen, wir kennen den Duft, aber oft fehlt die Zuordnung. Kein Wunder, schließlich kann der Mensch rund zehntausend Duftstoffe und etwa hundert bis zweihundert Düfte – also die komplexen Mischungen verschiedener Duftstoffe – wahrnehmen. Das Ausmaß hängt freilich von Erziehung, Übung und Erfahrung ab.
Aber nicht nur. Während beim normalen Atmen nur zwei Prozent der Luft bei den Riechzellen ankommen, lässt sich über »Schnüffeln« intensiver riechen. Auch das Alter spielt eine Rolle. Mit zunehmenden Jahren nimmt die Fähigkeit, Gerüche wahrzunehmen und zu erkennen, ab. Doch selbst wenn wir Gerüche erkennen, beschreiben wir sie über einen Vergleich: »Das riecht wie damals bei den Nachbarn/Pferdeschweiß/…«, oder nur durch ihre Primäraromen wie blumig, minzig oder harzig. Um Wahrnehmung und die passenden Worte dafür leichter zusammenzubringen, gibt es zum Beispiel für Wein, Brot oder Honig Aromaräder. Wer öfter bewusst schnüffelt, etwa an Orange, Toastbrot, Schokolade oder Beeren, kann sein Geruchsgedächtnis trainieren, Düfte besser identifizieren, leichter darüber reden, Erinnerungen wachhalten und die Welt der Aromen bewusster gestalten und erleben.

Handlungs-Shortcuts

Die lange Erinnerung und das Nicht-Fassen-Können lassen sich evolutionsgeschichtlich erklären. Während wir die Augen schließen und die Ohren zuhalten können, ist das Riechen mit dem Atmen verbunden. Etwa 15.000 bis 30.000 Mal atmen wir an einem Tag ein, und jedes Mal gelangen Duftstoffe zu den etwa dreißig Millionen Riechzellen im Dach der Nasenhöhlen. Müssten wir die Informationen jedes Mal bewusst bewerten und gar in Worte fassen, würde das enorm viel Zeit kosten, und unser Gehirn wäre komplett überfordert.
Daher läuft die Verarbeitung über schnelle und leistungsstarke Mechanismen, nämlich über die emotionale Bewertung im limbischen System. Das ist das älteste Gehirnareal, das zu Zeiten der frühen Säugetiere entstand. Schließlich haben Gerüche seit jeher Signalfunktion. Sie vermitteln einfache, bewertende und auffordernde Botschaften: »Lauf weg!« (Feuer), »Iss das nicht!« (Ekel), »Mehr davon!« (reife Früchte). Gerüche sind daher von entscheidender Bedeutung. Sie warnen vor Gefahren wie verdorbener Nahrung, geben aber auch Geborgenheit, Ruhe und Behaglichkeit.

© Gina Müller

Geruchsschnappschuss

Gerüche landen also direkt im Unbewussten und können zu unmittelbaren, unwillkürlichen und lange zurückliegenden Erinner­­un­gen führen. Sie haben das Potenzial, »Umstän­de selbst aus der fernsten Vergangenheit in uns zurückzurufen«, wie es Arthur Schopenhauer formulierte. Die Geruchsforscherin Sissel Tolaas aus Norwegen rekonstruiert spezifische Gerüche und versetzt mit ihren Ausstellungen Menschen in andere Zeiten oder Gegenden: nach Paris, Berlin oder New York, entlang ihrer Körperlandschaft oder in den Zweiten Weltkrieg. Mit einem neuen Tool, dem »Smell Memory Kit«, soll nun jedermann Momente olfaktorisch festhalten können. Gemeinsam mit der Wiener Manufaktur »SuperSense« von Florian Kaps hat sie dieses Kit entwickelt. Wie funktioniert’s? Kleine Ampullen sind mit abstrakten Geruchsmolekülen aus ihrem Labor befüllt. Abstrakte Gerüche sind solche, die bisher noch nicht mit irgendwelchen Erinnerungen assoziiert sind. Man kann sie also emotional komplett neu »beladen«.
Das geschieht, indem man die Ampullen in der jeweilig festzuhaltenden Situation aufbricht und daran schnüffelt. Riecht man wieder an der Ampulle, kehrt der Moment in der Erinnerung zurück. Ein Kit umfasst drei Ampullen mit demselben Geruch, auszuwählen aus unterschiedlichen Kategorien von A wie Air bis Z wie Zoo, sowie ein passendes Amulett. Ziel ist es, der Dominanz des Visuellen etwas entgegenzusetzen.

Erschienen in
Falstaff Nr. 08/2017

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Marlies Gruber
Autor
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