Die Intoleranzen-Hysterie

Die Gastronomie muss nun über Allergene informieren. Aber nehmen Intoleranzen tatsächlich zu, oder ist das Einbildung? Falstaff klärt auf.

Rund jeder Fünfte reagiert auf  bestimmte Lebensmittel mit Bauchschmerzen, Hautirritationen, Übelkeit oder Kopfschmerzen. Schnell wird vermutet, dass eine Allergie dahintersteckt. Zudem rückt die seit Ende 2014 geltende Informationspflicht in der Gastronomie und bei nicht verpackten Lebensmitteln Allergene weiter in den Fokus. Nun sind via Buchstabencode in den Speisekarten die 14 Hauptallergene, darunter Milch, Ei, Soja oder Fisch, abzulesen. Oder geschultes Personal informiert darüber.

Sind tatsächlich immer mehr Menschen Allergiker? Diese Wahrnehmung liegt zum einen sicher daran, dass es eine gesellschaftliche Sensibilisierung für das Thema gibt. Zum anderen könnten sich veränderte Lebens- und Wohnbedingungen bemerkbar machen. So trägt die fortschreitende Urbanisierung ihr Scherflein dazu bei. Denn: »Dreck« stärkt. Und auf dem Land kommen nun mal Kinder wie Erwachsene mehr mit ihrer natürlichen Umwelt in Kontakt.

Doch oft handelt es sich gar nicht um eine Allergie, sondern um eine Nahrungsmittel­intoleranz. »Nahrungsmittelallergien und Nahrungsmittelintoleranzen sind zwei Unterformen von Nahrungsmittelunverträglichkeiten«, erklärt Prof. Dr. Stephan Bischoff, Direktor des Instituts für Ernährungsmedizin an der Universität Hohenheim in Stuttgart. Der Unterschied zwischen den beiden? Nahrungsmittelallergien entstehen durch spezifische immunologische Mechanismen. Allergene sind meist Eiweiß-Bruchstücke, die das Immunsystem fälschlicherweise als gefährlich einstuft – es folgt eine Überreaktion. Typ I, IgE-vermittelte nahrungsbedingte allergische Reaktionen sind am häufigsten anzutreffen. Bei Intoleranzen rebelliert der Körper gegen eine bestimmte Substanz – ohne dass das Immunsystem beteiligt ist, meist aufgrund eines Enzymmangels. Das ist bei Laktose, Histamin oder Fruktose der Fall. 

Allergene im Überblick / © FalstaffTatsächlich sind von Allergien nur 1 bis 2 Prozent der Erwachsenen betroffen. »Bei Kindern ist die Häufigkeit der Erkrankung mit 4 bis 8 Prozent höher«, sagt Bischoff. »Diese frühen Allergien verschwinden jedoch meist spontan bis zur Einschulung.« Abwehrsystem und Darmflora sind bis dahin gereift und haben gelernt, mit einzelnen Eiweißmolekülen umzugehen. Das trifft jedoch nicht auf alle Allergien zu: Jene gegen Fisch oder Erdnuss bleiben oft ein Leben lang bestehen und sind keine Gäste auf Zeit. Und sie können bereits in kleinsten Mengen Überreaktionen auslösen, bis hin zum anaphylaktischen Schock. Neun von zehn der tödlich verlaufenden Fälle von Nahrungsmittelallergien sind auf den Konsum von Erdnüssen sowie Paranuss, Walnuss oder Pistazie zurückzuführen. Ab welcher Dosis Personen allergisch reagieren, ist dabei individuell und hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab: Stress, schnelles Essen und große Portionen zählen beispielsweise dazu. Diese Gewohnheiten führen häufig zu Sodbrennen, Magenschmerzen und Gastritis – alles Indikatoren für Säureblocker, die jeder fünfte Erwachsene regelmäßig einnimmt. Hat der Magen zu wenig Magensäure, ist der pH-Wert zu hoch, wird Eiweiß nicht in kleine Bestandteile zerlegt. Als Folge rebelliert das Immunsystem gegen vermeintliche »Feinde«.

Auch Herkunft und Sorte können entscheiden: So sind Fisch-Allergiker eher auf Meeresfisch und weniger auf heimische Fische allergisch, 40 Prozent gar nur auf eine bestimmte Sorte. Bei Äpfeln sind es die alten Sorten, die besser vertragen werden: Boskoop, Gravensteiner, Gloster. Die Art der Verar­beitung ist ebenfalls ausschlaggebend: Von roh bis gekocht steigt die Verträglichkeit gewaltig. Schälen, Reiben oder Entsaften senkt ebenfalls die Allergenität von Obst ­und Gemüse. Vorsicht ist nur bei Nüssen geboten: Bei ihnen ändert sich durch ­küchentechnische Verarbeitung nichts.

BILDERSTRECKE: Sinn oder Unsinn?
Buchstaben und Ziffern auf Speisekarten, um Allergene auszuweisen. Falstaff befragte österreichische und deutsche Spitzenköche, was sie von der neuen Verordnung halten. (Texte von Michael Pech)

HINTERGRUND: Von ersten Anzeichen bis zur Behandlung
Welche Symptome Sie nicht übersehen sollten, was dann zu tun ist, und wie sich eine Allergie oder Intoleranz therapieren lässt. Ein Leitfaden.

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KOMMENTAR

Falstaff-Deutschland-Heraus­geber Christoph Teuner über »allergisch Intolerante«.

Allergien und Intoleranzen. Ein heißes Eisen. Immer fühlt sich jemand angegriffen. Sagt man, viele der Allergiker seien eingebildete Kranke, schimpfen die Betroffenen und die große Branche, die Geld mit Allergien und Co. verdient. Sagt man, Allergien und Intoleranzen seien in der Tat ein immer größeres Problem, meckern Köche, denen Sonderwünsche inzwischen so viel Arbeit machen, dass sie Extra-Mitarbeiter einstellen könnten. Von den armen Privatgastgebern ganz zu schweigen, die oft nicht mehr wissen, was sie wem noch auftischen
dürfen.

Wie kommt man heraus aus dieser Zwickmühle? Mit guter alter westlicher Rationalität. Nehmen wir zuerst Gluten, das berühmt-berüchtigte Klebereiweiß. Allenfalls ein Prozent der Mitteleuropäer ist tatsächlich allergisch auf Gluten. Gefühlt leiden aber viel mehr Menschen unter einer Unverträglichkeit. Laktose: Auf dem Papier haben 15 Prozent der Deutschen eine Laktoseintoleranz. Trotzdem können sie, sagen Wissenschaftler, einen Viertelliter Milch pro Tag zu sich nehmen, ohne dass wirklich etwas passiert. In Käse ist übrigens kaum Laktose und im Joghurt sind Enzyme, die Laktose abbauen. Schließlich die Allergien gegen Nüsse oder wogegen auch immer: Wenn ein Heilpraktiker sagt, er habe eine Allergie mit Hilfe eines IgG-Tests nachgewiesen – Achtung! Vielleicht sollte man zu einem richtigen Arzt gehen. Antikörper im Blut sagen noch nichts aus. Nur handfeste Symptome tun das.

Ich persönlich jedenfalls schaue bei mir selbst genau hin. Ich möchte mich nicht dem Vorwurf aussetzen, ein eingebildeter Kranker zu sein, der seinen Mitmenschen auf den Wecker geht, weil ihm ein Sie-wissen-schon-was quersitzt. Und noch weniger möchte ich großen Konzernen dabei helfen, mit Quatschprodukten wie laktosefreien Spaghetti Millionen zu verdienen.

Habe übrigens gerade wieder den »Malade imaginaire« von Molière gelesen und sehr gelacht – über ihn und über mich.

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Text: Marlies Gruber 
Grafik: Gina Mueller

Aus Falstaff Nr. 02/2015

Marlies Gruber
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