»Der Wein lebt« – Christian Thielemann im Interview

Ein Orchester ist für den Stardirigenten Christian Thielemann ein Organismus, der lebt. Im Laufe der Zeit hat der künftige Leiter der Staatskapelle Dresden herausgefunden, dass dies auch für den Wein gilt.

Christian Thielemann gilt als einer der besten Dirigenten der aktuel­len Klassikszene. Der Berliner glänzt mit seinen konsequent werktreuen Interpretationen von Wagner bis Beethoven. Mit seiner kompromisslosen Art hat er sich auch bei den weltberühmtesten Orchestern enormen Res­pekt erarbeitet. Doch hinter dem für manche autoritär wirkenden Genie am Pult steckt auch ein Mensch, der zu genießen versteht. Falstaff-Chefredakteur Peter Moser hat mit Thielemann über das Thema Sinnesfreuden gesprochen.

Falstaff Sie stammen aus einem gutbürgerlichen Berliner Haus, kamen bereits früh mit der Leidenschaft für Musik in Berührung. Haben Sie auch kulinarische Erinnerungen?
Christian Thielemann Mein Vater hat gern Wein getrunken, er hatte eine verantwortungsvolle Position in der Industrie und bekam vor allem zu Weihnachten entsprechende Geschenke. Bei uns zu Hause gab es vorwiegend die deutschen Weißweine, die damals immer besser wurden, jetzt natürlich sowieso. Da waren Weine von der Mosel, aus Franken und Rheinhessen. Im Laufe meines Musikerlebens habe ich dann festgestellt, dass es noch manch andere Dirigenten und auch Pianisten und Geiger gibt, die sich gern mit Wein beschäftigen. Ich war viel in Italien und habe dort in erster Linie Rotweine getrunken. Auf die Franzosen bin ich etwas später gekommen – dann aber richtig. Zu meiner Zeit als Generalmusikdirektor in Berlin gab es zu diversen Anlässen den einen oder anderen feinen Bordeaux. Da habe ich mir gedacht, da müsstest du doch mal ein wenig nachsetzen. Also war ich gezielt bei mehreren Weinproben und habe schließlich festgestellt, dass das ein sehr lohnendes Hobby ist.

Was geht Ihnen denn bei so einer Weinprobe mit großen Bordeauxweinen durch den Kopf?
Es ist faszinierend, denn zunächst ist das ja ein Lotteriespiel. Sie können vorher gar nicht wissen, ob der Wein gut sein wird, auch wenn er aus einem berühmten Keller kommt. Wo war er denn davor? Hat der vielleicht drei Jahre im Schaufenster in der Sonne gestanden? Ich muss sagen, das ist eine ungeheuer spannende Sache, und ich finde es immer wieder ­erstaunlich. Denn Wein ist tatsächlich ein Lebewesen. Das ist wie beim Zusammenwirken von Menschen. So ein Orchester, das ist ebenfalls ein Organismus, der lebt. Da können auch mal Missstimmungen auftreten, und man muss sich gefühlsmäßig darauf einstellen. Beim Orchester können Sie ja nicht reden, Sie sagen eigentlich immer nur leiser, lauter, kürzer, länger, das, das, das. Es sind fast immer Kommandos. Das Beste ist, wenn Sie gar nicht mehr reden müssen, wenn sich alles ergibt. Da spricht man dann von Chemie. Das können Sie vorher nie wissen. Es hat schon berühmte Dirigenten gegeben, die mit berühmten Orchestern gearbeitet haben, und es hat nicht geklappt. Wobei Sie nicht hätten sagen können, dass das Orches­ter schlecht war oder gar der Dirigent. Die Chemie hat nicht gepasst.

Kann man diese Gedanken auf den Wein übertragen?
Natürlich, das ist beim Wein sehr ähnlich. Wenn jemand zum Beispiel sagt: »Ich weiß nicht, warum, aber der Cheval Blanc, der schmeckt heute Abend nicht so.« Das kann durchaus an Ihrer Tagesform liegen. Ich habe mir oft über die Punktevergabe bei Weinen Gedanken gemacht. Das ist wie beim Kritiker im Konzert. Der hat vielleicht an diesem Abend gar keine Lust auf Bruckner und muss trotzdem in eine Bruckner-Symphonie gehen, er ist von vornherein negativ eingestellt. Da ist dann eine besonders gute Leistung notwendig, um ihn zu überzeugen. Das könnte Ihnen als Weinkritiker doch genauso gehen. Sie haben sich auf eine Probe gefreut und müssen feststellen: »Ich habe heut nicht so einen Burgunder-Tag«, oder?

Bleibt bei der Vorbereitung auf eine neue musikalische Herausforderung noch Raum für einen Schluck Wein?
Wenn ich mitten in der Arbeit bin, dann wird gar nichts getrunken. Das kann ich nicht, ich könnte mich nicht konzentrieren. Manche Kollegen machen das, aber das geht dann eher auf die Whisky- oder Wodka-Schiene. Ich kann das nicht nachvollziehen. Das geht wahnsinnig an die Substanz. Sie können es den Menschen auch ansehen.

Und nach einer Premiere, auch wenn sie danebengegangen ist?
Eine Premiere bietet immer einen Grund. Wenn sie schlecht gelaufen ist, muss man einen trinken. Und wenn sie gut gelaufen ist, sowieso.

Brauchen Sie nach einem großen Konzert nicht auch mal zwei, drei Stunden Luft?
Natürlich ist auch der Abstand notwendig und die Beschäftigung mit anderen Dingen, die Qualität haben – wie etwa einem guten Glas Wein. Klar entspannt Alkohol in einem gewissen Maße, aber für mich ist das die perfekte Kombination. Ich habe erst nach einigen Jahren festgestellt, je länger ich mit diesen ­Weinen zu tun hatte, mit den guten, den exzeptionellen Weinen, dass man sich richtig auf sie einlassen muss.

Eine gute Flasche Wein sollte demnach ein entsprechendes Umfeld haben.
Es wäre schade, so eine Flasche einfach runterzukippen, etwa mit dem Schweinebraten. Nein, das muss schon einen Rahmen haben. Aber auch das lernt man erst nach einer Weile. Wir sind doch Genießer. Was mich bei den Weinen zudem fasziniert: Sie sind auch eine Art Medizin. Sie beinhalten Mineralien und Spurenelemente, das ist gigantisch. Man sieht manchmal schon am Depot, was da drin ist. Was nicht gesund ist, ist Alkohol in größeren Mengen. Aber das, was wir an Substanz zu uns nehmen, ist großartig.

Warum achten Sie so konsequent darauf, die Zahl Ihrer Auftritte in Grenzen zu halten?
Jeder erfolgreiche Mensch kommt an einen Punkt, an dem er sich sagt, er zahlt auch einen hohen Preis dafür. Sie kriegen ja nicht mit, was hinter den Kulissen läuft. Sie würden sich wundern, was das für traurige Existenzen sind, Leute, die nur noch mit dem Flugzeug hierhin und dorthin hetzen. Um nun so einen schönen Wein zu trinken und ihn auch noch einen Tag später nachklingen zu lassen, dafür muss man Zeit haben. Da muss man einfach sagen, dann kann ich halt nicht jeden Tag auftreten. Ganz einfach.

Dazu ist aber viel Selbsterkenntnis und auch große Disziplin erforderlich.
Ich finde, zur Lebenskunst gehören viele Farben. Wichtig ist ein Satz, der von einem der sieben Weisen im alten Griechenland stammt: »Nichts zu viel.« Das ist zwar eine Binsenweisheit, aber sie ist dennoch richtig. Es darf mal richtig viel Wein sein, aber zu viel? Wenn du dich dann schlecht fühlst, macht es doch auch keinen Spaß. Mit anderen Worten: kurz vorher aufhören. Wenn Sie nicht aufhören, sind Sie selber schuld. Das ist bei meinem Beruf genauso. Ich denk mir immer, es gibt die Momente, in denen man Dinge nachklingen lässt. Das ist ganz wichtig, auch beim Konzerterlebnis. Sie gehen als Zuhörer in die Oper und können nachher sagen: Mensch, das ist so toll gewesen, ich hab das jetzt in mir, das klingt noch in mir nach, ich erlebe das noch nach.

Sie sind bekannt dafür, dass Sie Wert aufs Handwerkliche legen, nach dem Motto »Der wahre Aufreger liegt in der Qualität«. Was bedeutet für Sie Qualität?
Qualität kann einfach sein. Wenn Sie meinen, Qualität muss von vornherein kompliziert und gezwirbelt sein: Das ist nicht so. Letztlich ist Wein ebenfalls eine einfache Angelegenheit. Ich habe öfter zu Hause eine gute Flasche aufgemacht und hatte vier oder fünf Käsesorten gekauft und Brot, wunderbar krustiges. Dann sagt man sich, jetzt trinken wir zu zweit ’ne schöne Flasche Wein, isst dazu Käse – was ­Besseres kann’s gar nicht geben.

Und wenn Sie nicht zu Hause sind, sondern ­unterwegs?
Ich esse sehr gern Regionales. Es ist doch ­wunderbar, wenn Sie in Japan sind oder in China, das dort Typische zu essen, wenn es nicht gerade Hühnerfüße sind. Mit dem Wein ist das ähnlich. In Österreich trinke ich einen österreichischen Wein, wenn ich in Deutschland unterwegs bin, in Hessen oder im Rheinland, dann will ich natürlich einen Wein von dort trinken. Und es muss beileibe nicht immer teuer sein. In hochpreisigen Restaurants werden Sie eher enttäuscht, als wenn Sie in einem einfachen Restaurant ein Wiener Schnitzel bestellen, das in der Küche richtig gut von ’ner Hausfrau gebraten wird. Diese seltsam ­geformten Teller mit Sellerieschaum an So-und-so-Süppchen oder so etwas – das ist gar nicht mein Ding.

Zur Person
Der gebürtige Berliner zählt heute zu den weltweit gefragtesten Dirigenten. Christian Thielemann war bereits in jungen Jahren Assistent von Herbert von Karajan in Berlin wie auch bei den Salzburger Festspielen und spielte daneben unter Karajan als Pianist in Berlin, München und Zürich. 1985 wurde er Chefdirigent an der Deutschen Oper am Rhein in Düsseldorf, 1988 Generalmusikdirektor der ­Nürnberger Oper. In der Spielzeit 1997/98 übernahm Christian Thielemann die Position des Generalmusikdirektors der Deutschen Oper Berlin. Im Sommer 2004 kündigte er in Berlin, um im September desselben Jahrs nach München zu gehen, wo er aktuell als Generalmusikdirektor der Münchner ­Philharmoniker engagiert ist, seinen Vertrag aber nicht ­verlängert. Ab 2012 wird Thielemann Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden, des ältesten kontinuierlich bestehenden Orchesters der Welt. Er tritt damit in die Fußstapfen großer Vorgänger, die dort als Kapellmeister wirkten, darunter Carl Maria von Weber (1816–1826), Richard Wagner (1843–1848), Karl Böhm (1934–1942), Giuseppe Sinopoli (1992–2001) und zuletzt Fabio Luisi. Als Gastdirigent hatte er Verpflichtungen in Rom, Bologna, London, Wien, Bayreuth, Philadelphia, Chicago, San Francisco und Cleveland. Als Interpret von Wagner feierte Thielemann nicht nur in Bayreuth umjubelte Erfolge, seine Einspielung sämtlicher Beethoven-Symphonien mit den Wiener Philharmonikern genießt unter Musikfreunden bereits regelrechten Kultstatus. Mit Richard Strauss’ Mammutwerk »Frau ohne Schatten« feierte Christian Thielemann 2011 bei den Salzburger Festspielen einen grandiosen Erfolg. Im November kehrt er mit der Wiederaufnahme von Wagners »Ring« an die Wiener Staatsoper zurück. Sämtliche Vorstellungen sind bereits seit Monaten ausverkauft.

Interview: Peter Moser
aus Falstaff 07/11

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