Kalbsbries in Rahmsause mit Morcheln

Kalbsbries in Rahmsause mit Morcheln
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Cortis Küchenzettel: Die Macht der Beständigkeit

Kalbsbries auf Grenobler Art ist ein großer Klassiker der französischen Küche. Severin Corti fragt sich, warum es nach der Stadt in den französischen Alpen benannt ist.

Kalbsbries gilt in unseren Breiten als mithin vornehmste der Innereien, was man, vom unendlich feinen Geschmack und der wolkig zarten Textur einmal abgesehen, nicht zuletzt am Preis merkt, um den man es beim Fleischer des Vertrauens ersteht. Umso mehr erstaunt, dass es gar nicht viele große Küchen gibt, in denen die Wachstumsdrüse des Milchkalbes weithin geschätzt wird. Den Italienern, wiewohl den inneren Werten über die Maßen zugetan, gilt es als exotisch und wenig populär. In Japan, noch so einer globalen Hochburg des richtig guten Essens, ist Kalbsbries laut Auskunft mehrerer Auskenner »völlig unbekannt«. Auch in Skandinavien, dem längst etablierten neuen Weiheort der feinen Küche, ist Bries nur unter erheblichen Schwierigkeiten zu bekommen, wie unsere Fotografin Stine Christiansen in Kopenhagen anlässlich der Produktion des nebenstehenden Bildes erleben musste.
In Frankreich aber steht diese zarte, zu durchaus nachdrücklicher Würzung einladende Edel-Innerei zumindest ebenso hoch im Kurs wie in der klassischen Wiener Küche. Während es in unseren Breiten (wen wundert’s) am liebsten paniert wird, haben die Franzosen eine ganze Reihe herrlicher Rezepte entwickelt. »À la financière« zum Beispiel, da wird das Bries mit Trüffeln und gepökelter Zunge gespickt, sanft gebraten und mit Hahnenkämmen, Geflügelnocken (»Quenelles de volaille«), Oliven und noch mehr Trüffeln in Blätterteigpastetchen ge-füllt. »À la parisienne« ist es mit Cham­pignons und Schinken in Kalbsjus glaciert, »à la liégeoise« mit Wacholder und Weißwein geschmort, »à la poulette« mit kleinen Zwiebelchen in einer mit Dotter gebundenen Weißweinreduktion serviert, »à la jurassienne« mit hocharomatischem Strohwein aus dem Jura gemacht. Womit wir, nicht zuletzt, schon bei jener Art sind, nach der Bries auch in nebenstehendem Rezept gefertigt ist: »à la grenobloise«, mit Zitronenfilets, Kapern und knusprigen Croutons; die nicht ganz ungeile Wucht des Brieses wird hier durch die wilde Fruchtigkeit der Zitrone und durch das kraftvolle Aroma der Kapern gezähmt.
Spätestens jetzt aber stellt sich die Frage, wie dieser Klassiker der französischen Küche zu seinem Namen kam. Grenoble ist in der Welt des guten Essens für seine Walnüsse (mit geschützter Herkunftsbezeichnung) berühmt, vielleicht auch für den kraftvollen Blauschimmelkäse »Bleu du Vercors« – Zitronen und erst recht Kapern aber gedeihen in dieser alpinen Landschaft mit Sicherheit nicht.
Weder in der Gastronomiegeschichte noch im famosen »Larousse Gastronomique«, nicht einmal bei Brillat-Savarin oder Escoffier findet sich ein Hinweis, wie das Gericht mit seinen ausgesprochen mediterranen Zutaten zu seinem ausgesprochen alpinen Namen kam. Wer jetzt anmerkt, dass die französische Klassifikation klassischer Zubereitungen auch sonst nicht viel mit geografischen Gegebenheiten zu tun hat, liegt richtig. Bestes Beispiel: Die »Escalope à la viennoise« wird klassisch französisch zwar auch paniert, die Garnitur besteht aber aus Sardellenfilets, Kapern, gehacktem Ei, Petersilie und Kalbsjus – in Wien würde man dafür geteert und gefedert. Oder Huhn Marengo: In dem piemontesischen Bergdorf, nach dem das Gericht benannt ist, wird man kaum auf Garnelen stoßen, die im klassischen Rezept vorgesehen sind. Dafür gibt es in diesem Fall zumindest eine logische Erklärung: Das Gericht wurde Napoleon nach der sieg­reichen Schlacht bei Marengo (wieder einmal gegen die Österreicher) von seinem Küchenchef vorgesetzt, seitdem hat es seinen gebirgigen Namen weg.
So irgendwie könnte es auch in Grenoble gewesen sein. Es ist faszinierend, den Namen großer Gerichte nachzuspüren, die stets auch etwas von den zahlreichen Verwerfungen und Überlappungen unserer gemeinsamen europäischen Geschichte erzählen. Das Wichtigste aber ist natürlich, dass sie uns auch heute noch so verdammt köstlich schmecken wie unseren Vorfahren vor Hunderten von Jahren. Diese Form der Beständigkeit ist es nämlich, welche die Qualität einer Küche mindestens so bestimmt wie ihr Talent, mit Likes und Herzileins ganz oben auf der Trendwelle von Instagram zu schwimmen – und morgen schon wieder vergessen zu sein.

Severin Corti's Rezept:

Ris de Veau à la Grenobloise

Erschienen in
Falstaff Nr. 07/2018

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