Ganz frisch sind Seeigel am besten und unvergleichlich im Geschmack. Aber auch Dosenware aus Spanien kann gut sein. 

Ganz frisch sind Seeigel am besten und unvergleichlich im Geschmack. Aber auch Dosenware aus Spanien kann gut sein. 
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Aufgestachelt: Wie Seeigel zum Foodtrend wurde

Seeigel werden unter Feinschmeckern mehr denn je geschätzt. Manche lassen dafür sogar Austern stehen.

»La Maruzzella« steht über der Eingangstür. Das Lokal wirkt auf den ersten Blick ein wenig herunter­gekommen, ist aber in dieser Gegend Apuliens eine Institution. Eine Kneipe direkt am Meer, etwas oberhalb von Gallipoli. Wer hierherkommt, weiß warum. Die meisten wollen hier nur eines: Seeigel, roh oder in einer Pasta. »Ricci di mare«, darum geht es hier. Ja, es gibt auch noch Muscheln und Fisch und ein paar Antipasti. »Doch das Wichtigste sind bei uns die Ricci«, sagt Francesco, einer der Kellner, »deshalb kommen die Leute zu uns. Ich hab noch keinen getroffen, der das nicht mag.«

Seit ewigen Zeiten werden hier tonnenweise Ricci verarbeitet und an die Gäste verfüttert. Gleich mehrere Typen tun hier den ganzen Tag nichts anderes, als Seeigel öffnen. Es sind meist finstere Gesellen mit tätowierten Oberarmen und viel Routine im Umgang mit den unhandlichen Meerestieren. So schnell kann man gar nicht schauen, haben sie die stacheligen Dinger auseinandergeschnitten, ohne sich dabei zu verletzen. Sofort leuchten fünf sternförmig angeordnete, gelblich bis orangefarbige Zungen, im Grunde genommen die Fortpflanzungsorgane der Tiere. Für viele eine unvergleichliche Delikatesse, die intensiv nach Meer schmeckt und in manchen Ländern zu einem kulinarischen Kultobjekt geworden ist.

Geöffnete Seeigel: Der Geschmack erinnert ein wenig an Austern, ist aber für viele noch intensiver.
© Juan Pablo Jimenez Barrilado
Geöffnete Seeigel: Der Geschmack erinnert ein wenig an Austern, ist aber für viele noch intensiver.

Besonders in Spanien. »Einen Seeigel essen, das ist, als würde man auf hoher See einen tiefen Atemzug machen«, schwärmte etwa der galizische Autor Julio Camba schon vor langer Zeit und fügte hinzu: »Im Vergleich dazu schmeckt selbst der feinste Hummer wie Schildkröte und die besten Venusmuscheln wie Autoreifen.«

Eigentlich sind Seeigel ein Wintervergnügen, denn in vielen Regionen dürfen sie aufgrund der jeweiligen Fangquotenbeschränkungen nur zwischen September und Mai gefangen werden. Oder sogar nur zwischen Jänner und März wie etwa in manchen Gegenden Südfrankreichs. In Lokalen in Süditalien wie etwa dem »La Maruzzella« werden Ricci hingegen mehr oder weniger den ganzen Sommer über serviert. »In Apulien sieht man das etwas lockerer«, meint einer der Kellner.

Seeigel kommen in fast allen Küstengebieten der Welt vor, kulinarische Tradition aber haben sie nur in wenigen Ländern. Darunter auch Japan. Dort werden die Seeigel-Zungen als »Uni« bezeichnet und gelten neben gepökelten Seegurkeninnereien (Konowata) und getrocknetem Meeräschenrogen (Karasumi) als eine der drei größten Delikatessen des Landes. 

«Seeigel-Ceviche»
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«Seeigel-Ceviche»

Die Japaner sind derart verrückt danach, dass sie zu den Fängen aus den eigenen Küstengewässern auch noch Ware aus Chile und den USA importieren müssen, damit die jährlich steigende Nachfrage gedeckt werden kann. 

Insgesamt gibt es rund 900 Arten von Seeigeln, kulinarisch interessant sind aber nur wenige. Etwa der Steinseeigel (Paracentrotus lividus), der zusammen mit dem schwarzen Seeigel (Arbacia lixula) vor allem in Spanien, Frankreich, Portugal, Italien und Marokko geschätzt wird, während der sogenannte Essbare Seeigel (Echinus esculentus) hauptsächlich an den Stränden des Nordatlantiks vorkommt. In Kalifornien wiederum wird der große Strongylocentrotus franciscanus in ­größeren Mengen aus dem Meer gefischt. Rund 7000 Kilo pro Woche sollen es sein, so einer der lizenzierten Fischer.

Seeigel in Dosen: nicht so köstlich wie frische Ware, aus Spanien kommt aber gute Qualität. 
© Juan Pablo Jimenez Barrilado
Seeigel in Dosen: nicht so köstlich wie frische Ware, aus Spanien kommt aber gute Qualität. 

In Ländern wie Spanien waren Seeigel lange Zeit ein Armeleuteessen. Man aß sie meist roh im eigenen Saft mit ein paar Spritzern Zitrone und trank dazu einen leichten Rotwein. Vor rund vier Jahrzehnten begannen vor allem die Kantabrier und Basken, Gerichte wie Seeigel-Bechamelkroketten, Seeigel-Rühreier und Fische in Seeigelsoße zu kreieren. Später kamen die Avantgarde-Köche. Allen voran der geniale Ferran Adrià, der in seinem legendären »El Bulli« schon früh die Welt mit seinem berühmten Seeigel in Steinpilzgelee mit Fenchelstengel verblüffte. Die Roca-Brüder in ihrem »El Celler de Can Roca« wiederum schufen mit einer Kombination aus Reis, Blutwurst und Seeigel ebenfalls ein legendäres Gericht.

Manche Köche Spaniens können sich ein Menü ohne Seeigel überhaupt nicht mehr vorstellen. So beginnt etwa Quique Da­costa in seinem gleichnamigen Restaurant in Denia (Provinz Alicante) seine Speisenfolge gern mit Appetithäppchen wie Seeigelrogen mit spanischer Blutorange und Kräutern aus den nahegelegenen Montgo-Bergen. »Der Rogen hat für mich einen wunderbar süßlichen Nach­geschmack«, sagt Dacosta, »aber im Grunde genommen schmeckt keiner wie der andere. Genau das ist der Reiz dabei.«

Quique Dacosta vom Restaurant «El Publet» im spanischen Denia kreierte ein eigenes Seeigel-Ceviche.
© Jose Haro
Quique Dacosta vom Restaurant «El Publet» im spanischen Denia kreierte ein eigenes Seeigel-Ceviche.

Auch Starkoch Ángel León veranstaltet in seinem südspanischen Sterne-Tempel »Aponiente« ganze Menüabfolgen mit speziellen Seeigelgerichten. In Ländern ohne Meer haben Seeigel hin­gegen auch in den Spitzenrestaurants noch immer eine eher geringe Bedeutung. Das liegt auch daran, dass sie ganz frisch am besten sind. Es gibt kein Meeresprodukt, bei dem die Frische so wichtig ist wie beim Seeigel. Löffelt man die Zungen gleich nach dem Öffnen, ist der Geschmack am intensivsten.

Geöffnet werden die stacheligen Meeresbewohner mittels einer Schere oder mit einem eigens dafür entwickelten Schneidewerkzeug. Dabei wird rund um die Mundöffnung ein »Deckel« abgetrennt.

Der Spanische Avantgarde-Koch Ángel León serviert ganze Menüfolgen mit Seeigel-Gerichten.
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Der Spanische Avantgarde-Koch Ángel León serviert ganze Menüfolgen mit Seeigel-Gerichten.

Da Seeigel nur in Küstengebieten ganz frisch zu haben sind, werden sie auch in Konserven angeboten. Die Qualität ist dabei je nach Hersteller und Preis stark unterschiedlich, im Idealfall schmecken sie aber immer noch intensiv nach Meer. Die meiste Erfahrung beim Konservieren haben spanische Produzenten. So legte ein ge­wisser Armando Barrio senior erstmals 1948 erfolgreich eine Ladung Seeigel in Dosen ein. Lange Jahre wurden die Dosen des erfinderischen Mannes nur an Freunde abgegeben, erst 1988 gründete Barrio zusammen mit seinem Sohn Armando die Firma »Conservas Agromar«.

Heute verarbeitet das Unternehmen jährlich mehr als zwanzig Tonnen Seeigelrogen und ist damit einer der größten Hersteller dieses Erzeugnisses. Das größte Problem dabei: die Frische. »Es geht bei Seeigel nicht um Tage, sondern um Stunden«, sagt einer der führenden Techniker von Agromar, »hinzu kommen noch einige andere Probleme bei der Konservierung.« Nachsatz: »Das hat aber auch etwas Gutes. Denn wenn es so einfach wäre, hätten wir viel mehr Konkurrenz.«  


Seeigel-Tauchen im Norden Norwegens

Seeigel-Tauchen geht man am besten im Winter. Im Norden Norwegens kann es dann oftmals bis zu minus 15 Grad haben. 
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Seeigel-Tauchen geht man am besten im Winter. Im Norden Norwegens kann es dann oftmals bis zu minus 15 Grad haben. 

Roderrick Sloan nennt sich gern einen »Gärtner, dessen Garten der Ozean ist«. Journalisten haben einen anderen Namen für ihn gefunden: »The Mad Scott«, der verrückte Schotte. Er lebt auf einer Farm nahe dem Dorf Leinesfjorden im Norden Norwegens. Im Winter, wenn die Sonne gar nicht aufgeht, hat es draußen oft minus 15 Grad. Dann ist für Sloan die beste Zeit des Jahres, seiner Arbeit als Seeigeltaucher nachzugehen. 

Die Seeigel im Norden Norwegens haben im Winter Saison. Sie gehören zur Gattung der Grünen Seeigel oder, zoologisch korrekter, Strongylocentrotus droebachiensis. Neben einigen anderen gilt auch diese Art als besonders köstlich: Sie wächst im kristallklaren, kalten Wasser extrem langsam heran. Sloan pflückt sie in ungefähr sieben bis zehn Metern Tiefe vom Meeresgrund, ein wenig außerhalb der ruhigen Fjorde, wo das Wasser wilder wirbelt und es stärkere Strömungen gibt. Von dort schmecken sie noch einmal viel besser als jene, die in wenigen Zentimetern Tiefe neben dem Pier wachsen. 

Bis zu 45 Minuten bleibt Sloan pro Tauchgang unter Wasser, in einem Ganzkörper-Neopren-Anzug. Sein Gesicht aber ist trotzdem der Kälte ausgesetzt, während er geduldig seine Beute händisch erntet. »Wenn die Köche die Kiste mit meiner Ware öffnen, dann muss vor ihnen der Ozean liegen«, sagt er. Zu seinen treuen Kunden gehören Magnus Nilsson, der bärtige schwedische Rockstar-Koch, der legendäre britische Koch Fergus Henderson oder René Redzepi, Chefkoch des »Noma«. Wer sie einmal probieren will, aber nicht nach Skandinavien reisen möchte, kann sie direkt bei ihm bestellen. Er verkauft sie auch an Privatkunden – »zu einem enorm hohen Preis«, wie er versichert.


Erschienen in
Falstaff Nr. 06/2017

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Herbert Hacker
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