Wie Seele und Geist wohnen
Stress, Covid-Pandemie, Homeoffice oder Dauerpräsenz saugen on- und offline Energie ab. Eine der Folgen: Mentale Stärken schwinden, die psychische Gesundheit leidet. Die gute Nachricht: Gut geplante und fein getunte Innenarchitektur kann einiges abfangen und hat direkten Einfluss auf das Wohlbefinden. LIVING hat nachgefragt, wie Mental Health und Design zusammengehen.
08.10.2021 - By Manfred Gram
Die Statistik spricht Bände. 39 Prozent der Menschen in Österreich waren in der Vergangenheit oder sind aktuell von einer psychischen Erkrankung betroffen. Das brachte 2020 eine Studie des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen zu Tage. Die wurde zwar Mitte März – also gleich zu Beginn des ersten Lockdowns – präsentiert, allerdings noch vor der Pandemie erhoben. Dass sich das in der Zwischenzeit verschärft haben dürfte, ist anzunehmen. »Viele Menschen haben unter der Belastung der Isolation und den neuen Anforderungen physische und psychische Symptome wie Ängste, Panikattacken und Erschöpfungssyndrome entwickelt. Jetzt ist besonders mentale Stärke gefragt«, kommentiert die Neurologin Jasmin Kechvar die aktuelle Situation.
Zudem erscheinen regelmäßig einschlägige Artikel, die den Ursachen dieser besorgniserregenden Zahlen auf den Grund gehen und dabei Wechselwirkungen von biologischen und sozialen Faktoren sowie belastenden Lebenserfahrungen beschreiben. Dabei rücken auch Untersuchungen zur Umgebung und Umwelt vermehrt in den Fokus, die nicht selten die Wohnsituation beleuchten. Kann diese doch Quell sowohl von Stress und Unbehagen als auch von Wohlbefinden sein. Eine Schlüsselstelle also, wenn es um geistige Gesundheit geht.
Fitter wohnen
»Das Thema ist nicht neu«, erklärt Barbara Perfahl und ergänzt: »Die Architekturpsychologie beschäftigt sich schon seit den 1960er-Jahren mit den Auswirkungen von Räumen auf das Verhalten, Fühlen, Denken und Handeln der Bewohnerinnen und Bewohner.« Perfahl ist dem Thema sehr nahe. Als Wohnpsychologin stellt sie sehr ähnliche Fragen und hat dabei stets auch die psychische Gesundheit im Blickfeld. »Besonders wichtig beim Wohnen ist es, eine Verbindung zur Natur herzustellen«, so die Expertin, die zur Untermalung ihrer Aussage ein sehr frühes wissenschaftliches Paradebeispiel anführt: »In einer Studie aus den 1980er-Jahren wurde festgehalten, dass Krankenhauspatienten schneller gesund wurden, wenn sie von ihrem Fenster aus auf Bäume schauen konnten.« Dementsprechend ist ihr Tipp, sich möglichst viel Natur in den Wohnraum zu holen, vor allem dann, wenn man nicht über Freiflächen oder einen Fensterblick ins Grüne verfügt. »Mit Zimmerpflanzen, Bildern von Pflanzen, floralen Prints und Mustern kann man viel für sein Wohlbefinden tun«, so Perfahl.
Aber nicht nur die Psychologie, auch die Neurologie hat den Themenkomplex Wohnen für sich entdeckt. »In der Architektur und Innenarchitektur besteht ein zunehmendes Interesse an den neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, die bei der Raumgestaltung eingesetzt werden können. Etwa um Räume zu schaffen, die unsere Funktionen im Gehirn verbessern, uns beruhigen, aber auch Leistung, Konzentration, Gedächtnis- oder Lernfähigkeit verbessern«, erzählt Jasmin Kechvar, Oberärztin in der Abteilung Neurologie am Evangelischen Krankenhaus in Wien. Ihre eigene Praxis nennt Kechvar übrigens »Neurospa« und möchte dort eine Brücke zwischen Neurologie, mentaler Gesundheit und Innenarchitektur schlagen. »Jede Wahrnehmung löst Emotionen und ein Verhalten aus! Unser Umfeld, die Räume, in denen wir wohnen, und auch Interieur-Design spielen eine wesentliche Rolle«, so die Ärztin. »Um das richtige Raumklima zu erschaffen, das sich positiv auf mentale und physische Gesundheit auswirkt, spielen Farben, Formen, Materialien, Oberflächen, aber auch die Positionierung der Stücke, Gerüche, Pflanzen und Kunst eine wesentliche Rolle«, zählt Kechvar abschließend auf. »Das Ziel ist es, Orte für ein gesundes Gehirn und Mindset zu schaffen. Dabei ist es wichtig, die richtige Balance zu finden. Individuelle Beratung hilft dabei, denn jeder Mensch tickt anders.«
Was geht?
Das sieht auch Barbara Perfahl so: »Beim richtigen Einrichten läuft alles auf die Frage »Was brauche ich?« hinaus. Wenn Corona etwas Gutes hatte, dann vielleicht das, dass viele Menschen zum ersten Mal wirklich über ihre Wohnräume und Wohnbedürfnisse nachgedacht haben.« Aber aller Individualität zum Trotz: Gibt es etwas, das jeder tun kann, um sich in seinen eigenen vier Wänden wohler zu fühlen? »Man muss Stressoren reduzieren, also optische und akustische Reize reduzieren. Wichtig ist es auch, Rückzugsorte zu schaffen, und man soll sich mit Dingen umgeben, die positive emotionale Gefühle wecken«, ist Psychologin Perfahl überzeugt.
Und auch von der neuroästhetischen Front gibt es in dieser Hinsicht Berichtenswertes. »In den letzten Jahren wurden Studien gemacht, die mithilfe von funktioneller MRTs des Gehirns Dos and Don’ts beim Wohnen herausfiltern wollten. »Hier ist sicher noch weiterer Forschungsbedarf, aber generell zeigt sich, was man aus Harmonielehren schon kennt«, kommentiert Jasmin Kechvar den Stand der Dinge und gibt auch Beispiele. Etwa dass Farben wie Rot und Gelb aktivierend wirken, Blau, Grün und Naturtöne beruhigen. Zudem konnte in Studien gezeigt werden, dass das menschliche Gehirn evolutionsbedingt positiv auf runde, kurvige und ovale Formen beziehungsweise Kreise reagiert. Allerdings vermitteln auch Rechtecke und quadratische Formen Sicherheit und Gemütlichkeit. Was tun? »Am besten in Zusammenarbeit mit Architekten, Innenarchitekten und Wohnraumpsychologen das individuell beste Konzept für einen finden und so Räume schaffen, die unser Gehirn und Nervensystem positiv beeinflussen!«, meint Jasmin Kechvar.