The Imitation Game
Materialimitate werden immer besser. Und: Sie sind auch noch besser als ihr Ruf. Vor allem wenn mit Innovationsgeist ökofreundliche und nachhaltige Alternativen zum Altbekannten geschaffen werden. LIVING weiß, warum das Richtige oft im Falschen zu finden ist.
24.03.2022 - By Manfred Gram
Die Realität ist oft einmal ein ziemlich harter Hund. Um sie ein bisschen besser zu ertragen, umgibt sich der Mensch gerne mit schönen, echten und wahren Dingen. Daran kann er sich dann delektieren, bevor es wieder rausgeht in die Realität zum harten Hund. Es gibt dabei nur ein kleines Problem: Das Schöne, das Echte, das Wahre ist begrenzt, daher nicht immer verfügbar und auch entsprechend kostenintensiv. Trotzdem wollen es alle. Also was tun?
Einige Lösungsansätze gibt es. Man kann zum Beispiel Teppiche so knüpfen, dass sie wirken, als wären sie aus Marmor. Auch Tücher lassen sich so weben, dass sie in Terrazzo-Optik daherkommen. Zudem verfügt der Mensch über einen findigen Geist, der recht schnell auf weitere Ideen gekommen ist, um mit günstigeren Mitteln dem Schönen, Echten und Wahren näher zu kommen. Oder besser: es nachzumachen. Das ist okay, wenn’s jeder weiß und auch offen kommuniziert wird. Laminat statt Holz, falscher Marmor, Beton zum Kleben, Steinplatten aus Altpapier – Design-Ästheten stoßen dabei zwar schnell einmal an ihre Toleranzgrenzen und rümpfen die Nase, aber wirklich dabei ist nichts. Zum Problem werden Imitate erst, wenn die Täuschung arglistig geschieht und billig hergestelltes Nachgemachtes weit über Wert verkauft wird.
Fast genauso
Vielleicht ist auch dies ein Grund, warum Imitate, insbesondere, wenn sie edle Materialien nachäffen, nicht den besten Ruf genießen. Aber nicht nur. Designerin Moya Hoke, die auch an der New Design University in St. Pölten Design, Handwerk & materielle Kultur unterrichtet, erklärt, zum (problematischen) Wesen von Materialimitationen befragt: »Wenn Dinge an ihrer Oberfläche nicht ihr Innenleben, ihre eigentliche Zusammensetzung preisgeben, können sie in vielerlei Hinsicht problematisch werden. Produkte entgleiten uns, wenn wir nicht wissen, woher sie kommen oder wie sie gemacht sind.«
Sascha Peters, Mitgründer von Haute Innovation, einer Berliner Agentur, die sich intensiv mit (Zukunfts-)Fragen zu Material und Technologie beschäftigt, sieht das übrigens ähnlich. »Tatsächlich stehen wir Imitaten, die versuchen, ein natürliches Material wie Holz, Stein oder Marmor durch minderwertige Kunststoffe zu ersetzen, nicht sonderlich positiv gegenüber.« Der Experte und Materialkenner, relativiert aber auch ein klein wenig seine Grundhaltung: »Wenn Technologien dazu führen, dass CO2 in der Produktion und im gesamten Prozess eingespart wird, haben Imitate dennoch eine Berechtigung – wie bei Betontapeten zum Beispiel.«
Good Fake
Man sieht, mit dem passenden Argument können auch Materialien, die auf Mimikry aufbauen und so tun, als wären sie was anderes, mehr als bloße Imitation sein. Es kommt also auf den Kontext an. Dementsprechend wichtig ist es daher, zu differenzieren: »Erzählen Materialien Geschichten über ihre Herkunft, wie beispielsweise Lampen aus Orangenschalen, die vielleicht als Nebenprodukt der Saftproduktion entstehen, oder Steine, die als Pyroplastik an Strände gespült werden und dann zu Terrazzoböden werden, sieht die Sache wieder anders aus«, meint Maya Hoke und präzisiert: »Diese Materialien sind Reaktionen auf unsere nun veränderte ökologische Sphäre im gestalterischen Sinne. Es handelt sich eigentlich nicht um Imitate, vielmehr sind es zu Material gewordene Zeugen unserer Zeit.«
Zeitzeugen, die allgegenwärtig sind. Speist man etwa im dänischen Überdrüberrestaurant »Noma«, tut man dies von Tellern, die aus angespülten Muscheln gemacht wurden, aber wie Keramik aussehen. Besucht man (sofern sie stattfinden) Designmessen, stößt man sicher
bald einmal auf Gläser und Vasen, die keinen herkömmlichen Produktionsprozess hinter sich haben und beispielsweise aus alten Ascheresten von Pizzaöfen gefertigt sind. Alte Apfel- und Bananenschalen werden als widerstandsfähige Stoffe wiedergeboren, und was wie eine Betonplatte aussieht, können einst Fischschuppen gewesen sein.
Man kommt also durchaus zum Eindruck, dass im Imitation-Game alles zu neuem Material verarbeitet wird, was irgendwie einen Nachhaltigkeitsaspekt aufbringt. Und doch verweist das alles auf etwas Größeres: »Es geht nicht um Imitationen, sondern um die Entwicklung und den Einsatz hochwertiger neuer Materialien aus natürlichen Reststoffen«, erklärt Sascha Peters. Es geht also darum, die »falschen« durch die »richtigen« bzw. »richtigere« Materialien zu ersetzen. Oder wie Peters analysiert: »Auf den ersten Blick sieht dieser Austausch nach einer Imitation aus, doch er ist ein Transformationsprozess in eine neue nachhaltige Materialkultur.«
An der Schnittstelle zwischen Biologie und Technik sehen wir die weitreichendste Innovation für die Zukunft.