Stephan Gratzer vom Genfer Architekturbüro Jaccaud + Associés im Interview
Der Schweizer Wohnbau zählt zu den innovativsten Wohnmodellen Europas. Ein großer Mietmarkt, strenge Richtlinien und eine engagierte Szene von Genossenschaften haben das Qualitätslevel jahrzehntelang nach oben gepusht. Ein Gespräch mit Stephan Gratzer, Partner im Genfer Architekturbüro Jaccaud + Associés.
03 . Januar 2023 - By Wojciech Czaja
RESIDENCESIhr Büro ist voller Holzmodelle. Warum das?
STEPHAN GRATZER Wir lieben die Holzmodelle, weil sie das Planen und Bauen sehr anschaulich machen. Sie visualisieren die Stimmung, die Größe und die Proportion eines Hauses und bleiben dennoch gewissermaßen abstrakt. Die Modelle wurden alle in unserer Modellbauwerkstatt von unserem Modellbauer realisiert.
Die Modelle stehen auf hohen Podesten. Wenn man sich zwischen den Schreibtischen hin- und herbewegt, sieht man förmlich in die Wohnzimmer der Miniaturwelt hinein. Was fasziniert Sie an diesem Blick?
Unsere Bauherren sind keine Vögel! Wir -positionieren die Architekturmodelle hoch oben in Augenhöhe, damit man sie aus der Fußgängerperspektive betrachten kann. Man kann die Modelle auch angreifen und direkt in sie hineinsehen, zudem bieten die Holzmodelle eine hohe Wertigkeit, sie wirken konkret und konsistent. Es sind -Modelle, die viel aussagen, zugleich aber die Materialität noch offen lassen.
Die Modelle verraten den Schwerpunkt Ihrer Arbeit. In den letzten Jahren hat sich das Büro Jaccaud + Associés eine starke Expertise im großvolumigen Wohnbau erarbeitet. Wie kam es dazu?
Uns interessieren alle Größen und Maßstäbe von Projekten. Aber ja, es stimmt, die meisten Wohnbauwettbewerbe, die wir gewonnen haben, bewegen sich in einem großen Volumen mit je um die 200 Wohnungen. Der Reiz der großen Masse hat sicherlich auch mit dem Impact auf die Stadt zu tun, denn in diesen großen Dimensionen hat ein Projekt unmittelbare Auswirkungen auf das urbane Umfeld. Wir bauen zwar Wohnungen, leisten aber parallel dazu auch einen baukulturellen Beitrag auf Stadtebene. Ich finde das faszinierend.
»Die Bauvorschriften in Genf sind extrem streng«, sagt der 40-jährige Architekt Stephan Gratzer, »aber mit den Herausforderungen wächst auch die Qualität des Wohnens.« jaccaud-associes.ch
© Joel TettamaniWorauf legen Sie in Ihren Wohnbauten besonderen Wert?
Unser Motto im Büro ist: Es darf keine Wohnung in schlechter Qualität geben. Jede Wohnung muss so beschaffen sein, dass wir uns vorstellen könnten, selbst einzuziehen. Und was die Architektur betrifft: Wir passen jedes einzelne Projekt seiner Umgebung an. Uns ist es wichtig, die Bauten so in die Stadtlandschaft einzubetten, dass man auf den ersten Blick meinen könnte, das Haus sei schon immer da gewesen.
Warum?
Die Stadt ist schon heterogen genug, sie ist voller Brüche und Kontraste. Und das ist gut so. Zugleich aber braucht es, damit die Stadt am Ende nicht zu einer Summe aus Fragmenten wird, gelegentlich auch sanfte Übergänge und harmonische Adapter zwischen dem einen und dem anderen. Diese Adapterqualität ist eine Eigenschaft, den wir als Architekten für uns beanspruchen.
In jüngster Zeit bauen Sie vor allem mit Holz. Aus welchem Grund?
Natürlich wollen auch wir unseren ökologischen Beitrag leisten, und Holzbau ist nun mal eine nachhaltige Bauweise mit
wenig Grauenergiebedarf und geringen CO2-Emissionen. Idealerweise würden wir unsere Projekte gerne ausschließlich mit regionalen Materialien und Ressourcen realisieren. Im urbanen Kontext und im mehrgeschoßigen Wohnbau ist ein Holzbau jedoch eine große Herausforderung, vor allem, was die Fassaden, die Akustik und den Brandschutz betrifft.
Genf hat einige Besonderheiten. Der Kanton nimmt im Schweizer Bauwesen eine besondere Rolle ein.
Der Kanton Genf ist aus Gesamtschweizer Sicht etwas besonders, bei uns ist vieles ein bisschen anders. Die Mindestraumhöhe in Wohnungen beträgt 2,60 Meter, die Anzahl der Badezimmer pro Wohnung ist genau vordefiniert, abhängig von der Gesamtwohnfläche, und interessanterweise wird bei uns die Küche als Zimmer mitgezählt – was zur Folge hat, dass die Küche in der Planung psychologischerweise etwas mehr Gewicht und Aufmerksamkeit bekommt als anderswo, jedoch ohne Herd und Kühlschrank vermietet wird.
Wie schaffen Sie es, selbst innerhalb dieser strengen Vorgaben gute, innovative Projekte zu realisieren?
Es gibt viele tolle historische Vorbilder, an denen wir uns orientieren. Eine ganz konkrete lokale Referenz für unsere Arbeit ist der Genfer Architekt und Urbanist Maurice Braillard. Schon in den 1920er-Jahren hat er auf schmale Flure verzichtet und durch intelligente Grundrisse eine Offenheit und Nutzungsflexibilität geschaffen, die man auch aus den österreichischen Gründerzeitbauten kennt. Man sieht also: Vieles geht! Bloß keine Standard-Schuhschachteln!