© Lukas Ilgner

LIVING Salon: Sind wir Stadtmenschen oder Landeier?

Weltweit wohnen knapp 60 Prozent der Menschen in Städten, und es werden immer mehr. Doch was sind die konkreten Vor- und Nachteile von urbanen und ländlichen Lebensräumen? Und kann man die beiden Biotope überhaupt voneinander trennen? Darüber diskutieren der Grazer Architekt Werner Nussmüller, der Verkehrsplaner Hermann Knoflacher und die Creative-Industries-Expertin Elisabeth Noever-Ginthör.

05.01.2023 - By Wojciech Czaja

LIVING Aus dem Bauch heraus: Stadtmensch oder Landei?

Elisabeth Noever-Ginthör Ich bin ein absoluter Stadtmensch.

Hermann Knoflacher Ich bin ursprünglich ein Landei, bin auf einem Bauernhof in Korpitsch im Gailtal, Kärnten, aufgewachsen und habe in Wien die Stadt zu schätzen gelernt.

Werner Nussmüller Beides! Ich glaube, das kann man nicht trennen. In uns allen sind unterschiedliche Aspekte von Stadt und Land vereint. Im Laufe seines Lebens migriert man hin und her. Ich selbst bin am Land aufgewachsen und nun in Graz hängen geblieben. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt.

Was sind denn die Vor- und Nachteile von Stadt und Land?

Noever-Ginthör Die Stadt ist ein Ort der kurzen Wege, der kulturellen und wirtschaftlichen Dichte, der geballten Infrastruktur. Am Land hingegen steht uns vor allem die Ressource Raum zur Verfügung. Mein Eindruck ist: Oft wird Land mit Grün gleichgesetzt, aber das ist zu kurz gedacht. Es gibt viele Gemeinden und Wohnformen im ländlichen Raum, in denen Grün keine unmittelbare Qualität ist.

Nussmüller Spannend finde ich in der Stadt-Land-Diskussion eine gewisse Diskrepanz: Einerseits gibt es am Land schöne, intakte soziale Bindungen, jeder kennt jeden, man kommt leicht miteinander ins Gespräch, zugleich aber kann das Land in der sozialen Kontrolle sehr eng und klaustrophobisch sein. Hier bietet die quirlige, pulsierende Stadt trotz ihrer räumlichen, baulichen Enge viel, viel mehr Weite!

Knoflacher Beide sind interessant, wenn man sie versteht! Und dann tut es umso mehr weh, mitanzusehen, wie in -beiden ihre Vorteile verloren gehen.

Sie haben vorhin die Binnenmigration zwischen Stadt und Land angesprochen. Warum bewegen sich die Menschen hin und her?

Nussmüller Das Hauptargument, das ich am häufigsten höre, sind die Kinder. Mit dem Kinderkriegen und den unterschiedlichen Altersstufen der Kinder fangen die Menschen an, in die Stadt hinein- oder aufs Land hinauszuziehen. Mit dem Auszug der Kinder – oder spätestens mit der Pension – findet ein neuerlicher Wechsel statt.

Noever-Ginthör Dabei ist die Betreuung der Kinder am Land nur scheinbar einfacher! Die Wege sind weit, als Mutter oder Vater ist man permanent damit beschäftigt, die Kinder irgendwohin zu bringen. Die Möglichkeiten selbstständiger Mobilität ohne eigenes Auto beziehungsweise ohne die eigenständige Mobilität von Kindern sind doch sehr eingeschränkt.

Knoflacher In den meisten ländlichen Regionen ist ein Alltag ohne Auto, wie Sie sagen, leider nur schwer vorstellbar. Und das hat mehrere Ursachen: Raumplanungsfehler, Finanzausgleich, Baupreise, Bauordnungen, die zu Autobesitz und Autobenützung verleiten, ja geradezu zwingen. In der Stadt wurde bereits viel getan, damit Menschen zu Fuß, mit dem Rad und vor allem mit den öffent-lichen Verkehrsmitteln unterwegs sind. Am Land fehlt es meist noch an Alternativen zum Auto, dafür aber gibt es Gemeinden, in denen pro Einfamilienhaus drei Stellplätze vorgeschrieben sind. Das ist ein Wahnsinn!

Wie ist das Problem zu lösen?

Knoflacher So wie in der Stadt mit vielen verschiedenen Instrumenten – mit Parkraumbewirtschaftung, mit einem attraktiven öffentlichen Verkehrsnetz und vor allem mit einer kulturellen Abkehr davon, dass jeder Pkw-Parkplatz funktionell und symbolisch aufgeladen ist. Wir müssen es endlich schaffen, die Stellplätze von den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens zu trennen.

Wird das gelingen?

Knoflacher Wenn sich die Richtigen finden, immer! Wien war in den 1970er-Jahren schon sehr fortschrittlich. Man hat damals begonnen, Autos aus der Innenstadt zu verbannen, zunächst einmal mit den Fußgängerzonen am Graben und in der Kärntner Straße. Und unser aller Vision war, bis Mitte der Achtzigerjahre eine autofreie City zu schaffen. Aber manche Dinge brauchen ewig, und manche passieren nie. Wächst die Einsicht, dass das Auto kein Statussymbol mehr ist, sondern endlich das wird, was es ist, nämlich ein Transportmittel und eine Bewegungsprothese, dann wird es leichter gehen.

Nussmüller In Graz hatten wir jahrelang eine Autofahrerpartei mit zwei Mandaten! Auto, Auto, Auto!

Werner Nussmüller plant Wohn- und Kulturbauten im städtischen und ländlichen Raum. In Stanz in der Steiermark baute er nicht nur ein Wohnhaus, sondern schuf einen ganzen Ortskern mit Wohnen, Gewerbe, Verwaltung und sogar einem eigenen Biomasse-Heizkraftwerk.

Herr Nussmüller, Sie haben in der steirischen Gemeinde Stanz ein Ortskernprojekt mit einem innovativen Mobilitätskonzept geplant.

Nussmüller Die Stanz ist eine kleine Gemeinde im Mürztal, rund 4.000 Einwoh­ner:innen. Für ein hochwertiges Bussystem fehlt das Geld. Stattdessen hat man dort zwei sehr clevere Verkehrssysteme implementiert: Zum einen gibt es ein Autostopp-Mitfahrsystem mit einem Bankerl als Haltestelle. Sobald man auf der Bank Platz genommen und den Sonnenschirm aufgespannt hat, ist das für alle Vorbeifahrenden das Zeichen, dass man mitgenommen werden möchte.

Noever-Ginthör Ja, das ist toll. In Breitenbrunn, Burgenland, gibt es den sogenannten Gmoabus. Allerdings sind diese Konzepte zumeist auf die jeweiligen Gemeinden beschränkt und verbinden sich nicht mit Nachbargemeinden.

Knoflacher Auch in einigen Kärntner Gemeinden hat man sich das abgeschaut und nachgemacht. Ein tolles System!

Nussmüller Und zum anderen hat der Bürgermeister auf Kosten der Gemeinde ein Elektroauto angeschafft. Es gibt ein Radl mit 18 Bürger:innen, die an jeweils einem Tag im Monat ehrenamtlich Taxi fahren und die Leute auf Wunsch von A nach B bringen. Der Gast zahlt lediglich die Energiegebühr für die Fahrstrecke, also ein paar Euro.

Frau Noever-Ginthör, Sie haben vorhin die Ressource Raum angesprochen. Inwiefern macht sich das im Wohnen bemerkbar?

Noever-Ginthör Leistbares Wohnen ist am Land leichter realisierbar als in der Stadt. Man bekommt fürs gleiche Geld in der Regel mehr Wohnfläche. Aber das heißt nicht unbedingt, dass das Leben am Land billiger und bequemer ist. Man hat weite Strecken zurückzulegen, man hat höhere Mobilitätskosten, und man wendet auch mehr Zeit für die Mobilität auf.

Knoflacher Das Problem ist, dass die Menschen am Land viel zu viel Raum benötigen, den sie nicht sinnvoll nutzen. Einfamilienhäuser haben oft Hunderte Quadratmeter Land für den Mähroboter, hinzu kommen Parkplätze und Zufahrtstraßen. Österreich
ist jetzt schon Weltmeister in der Boden­versiegelung und in der Baulandwidmung von Grünraum. Hier braucht es dringend intelligente Wohnkonzepte.

Und zwar?

Nussmüller In der Stanz ist es uns
gelungen, so ein intelligentes Wohnkonzept auch im ländlichen Raum zu realisieren! ­Mitten im Ortskern haben wir über einem Bio-Supermarkt einen Holzbau errichtet, in dem sich nun 16 kompakte Dorfwohnungen befinden. Man wohnt auf dem Dach des Supermarkts mit Laubengangerschließung und einem grünen Innenhof in der Mitte. Es geht!

Ein großer Unterschied zwischen Stadt und Land ist auch die Kunst-, Kultur- und Kreativszene. Wie würden Sie diese Themen charakterisieren?

Noever-Ginthör Gemessen an der Einwohner:innenzahl ist die Dichte an Kunst- und Kulturinstitutionen in Wien enorm groß! Allein in den vergangenen Wochen gingen die Vienna Design Week, die Vienna Contemporary, das Musikfestival Waves und das Galerienfestival curated by vienna über die Bühne, und im November findet jedes Jahr die Vienna Art Week statt. Hinzu kommt, dass wir seit der Jahrtausendwende kontinuierlich in den Aufbau der Kreativwirtschaft investieren – das ist unser Job. Begonnen hat der Trend in Großbritannien, wo Tony Blair die Creative Industries als eine wichtige Säule der Wirtschaft ausgerufen hat. In der Zwischenzeit hat die Kreativwirtschaft unsere Stadt enorm geprägt und ist aus Wien nicht mehr ­wegzudenken.

Elisabeth Noever-Ginthör hat einen Fokus auf Architektur, Stadtentwicklung und Events im Kunst- und Kulturbereich und schätzt vor allem die kulturelle Dichte in der Stadt. Aber auch im ländlichen Raum, sagt sie, finden spannende Impulse und Initiativen statt.

Wie ist die Situation in der Steiermark? Immerhin ist Graz seit 2011 als Unesco City of Design.

Nussmüller Graz hat sich immer schon als lebenswerte Alternative zu Wien verstanden. 2003 war Graz Europäische Kulturhauptstadt, und bis heute spielt die Kultur in Graz eine wichtige Rolle. Im Sommer findet in Graz das wirklich geniale Straßenfestival »La Strada« statt. Ich kenne viele Grazer:innen, die ihren Urlaub verschieben, nur um in der letzten Juli- und ersten Augustwoche dieses Festival mitzuerleben! Und natürlich hat »La Strada« mit dem städtischen Straßenraum zu tun, denn viele Konzerte und Aufführungen finden in den Fenstern oder auf den Dächern und Balkonen statt. Da wird die Stadt zum Dorf.

Knoflacher Die Grundvoraussetzung dafür sind natürlich autofreie Straßen und Innenstädte. Mit parkenden und fahrenden Autos keine Chance!

So radikal?

Knoflacher Absolut! Das eine ist die physische Mobilität, von der wir meistens sprechen, das andere jedoch ist die geistige Mobilität. Die beiden Mobilitäten sind miteinander gekoppelt, und zwar in einem indirekt proportionalen Verhältnis.

Das heißt?

Knoflacher 200 PS unter der Motorhaube, dann muss das Hirn nicht mehr viel leisten. Null PS, und plötzlich wird man geistig kreativ und über alle Maße mobil im Kopf.

Wie sieht die Kunst- und Kultursituation am Land aus?

Knoflacher Kunst und Kultur gibt es da wie dort. Dazu muss man wissen, dass im Prinzip alle Städte auch nur aus Dörfern bestehen. Selbst die indische Megametropole Delhi mit ihren 16 Millionen Einwohnern besteht aus ursprünglich 550 Dörfern. Und so ist es nicht weiter verwunderlich, dass sowohl in der Stadt als auch im Dorf ganz typische lokale Identitäten zu finden sind: Kunst, Kultur, Kulinarik, Mundart, Idiome, gewisse Bräuche und Rituale. Auch in
Wien fallen einem zwischen den Bezirken deutliche Unterschiede auf, wenn man sich von einem Grätzel ins nächste begibt.

Noever-Ginthör Ja, damit beschäftigen wir uns schon lange. Wie geht Stadtteil-
entwicklung unter Einbeziehung der lokalen und kulturellen Potenziale und Gegebenheiten? Die Fragestellung ist am Land nicht sehr viel anders: Denken Sie nur an den Werkraum Bregenzerwald, an die Sommerfrische Bad Gastein oder an das Festival der Regionen! Mit der Kulturhauptstadt Bad Ischl wurde nun – zum allerersten Mal – eine Region als Kulturhauptstadt ausgewählt. Im Sinne der regionalen und kulturellen Vernetzung könnte das ein wichtiger Beitrag zum Thema Stadt-Land sein.

Was ist denn der Unterschied im Kulturkonsum zwischen Stadt und Land?

Noever-Ginthör Die Konzentration an kulturellen Veranstaltungen ist in der Stadt natürlich ungleich höher, die Entscheidung, was man wahrnehmen will, schwieriger, das Einlassen vielleicht auch weniger tiefgreifend. Ich denke, das Land hat dabei den Vorteil, dass Kunst und Kultur bewusster und intensiver erlebt werden können.

Nussmüller Das deckt sich auch mit meinen Erfahrungen. Kunst und Kultur im länd­lichen Raum ist irgendwie direkter, unmittelbarer. Ich bin derzeit in einem Ausschuss drinnen, in dem ich im Auftrag des Landesrats mit Kolleg:innen aus unterschiedlichen Branchen darüber berate, wie die Zukunft der ländlichen Kultur aussehen kann. Erst gab es die Landesausstellungen, dann die Regionalen, nun sind wir auf der Suche nach ganz neuen Formaten für den ländlichen Raum.

Aktuell sind zwei gegensätzliche Tendenzen zu beobachten: Das Land wird immer städtischer mit Kreativ-Hubs und Coworking-Spaces, die Stadt hingegen wird immer dörflicher mit Grätzeloasen und Urban Farming.

Knoflacher Die Vorteile beider Welten zu vereinen, ist kein Fehler!

Nussmüller Ich denke auch, dass die Annäherung von Stadt und Land eine positive Entwicklung ist – und auch ein Zeichen unserer geistigen Mobilität.

Noever-Ginthör Mit der zunehmenden Digitalisierung wurde vieles möglich. Dank dem mobilen Arbeiten sind viele von uns nun ortsunabhängig. Ein großes Problem des Landes allerdings ist der Zweitwohnsitz: Wenn man irgendwo lebt und arbeitet, dann muss man auch einen gesellschaftlichen Beitrag zu seinem Lebensort leisten. Viele davon verbringen hier nur das Wochenende und verbarrikadieren sich in ihrem Einfamilienhaus. Das allein ist zu wenig.

Zum Abschluss: Was kann die Stadt vom Land lernen?

Noever-Ginthör: Wir müssen verstehen lernen, wie und wo die Dinge wachsen und wie viel Zeit dafür notwendig ist.

Knoflacher Die Natur respektieren. Und mit den Händen in die Erde greifen.

Nussmüller Einfachheit.

Und was kann das Land von der Stadt lernen?

Knoflacher Dass man schöne Orte mit Verweilqualität schaffen muss.

Nussmüller Die gesellschaftliche Komplexität und Vielschichtigkeit des Zusammenlebens.

Noever-Ginthör Die Schönheit der Verdichtung.

Hermann Knoflacher befasst sich seit Jahrzehnten mit alternativen, innovativen Mobilitätskonzepten auf dem Land und in der Stadt. Im urbanen Raum, meint er, haben wir es bereits geschafft, umzudenken. Am Land jedoch hinkt das Mobilitätsangebot noch hinten nach.

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