Sehnsuchtsorte: Willkommen im Terrassenland
Urbane Paradiese, künstliche Naturräume, Schnittstellen zwischen Dschungel und Architektur: Terrassen und Terrassenhäuser, so scheint es, erleben derzeit eine neue Renaissance. Mal mit Blick auf die City, mal mit Panorama-Aussicht auf den Mount Fuji.
07 . April 2021 - By Wojciech Czaja
Eine Terrassenlandschaft, so weit das Auge reicht, aus ziegelrot eingefärbtem Beton und amorph geformten Häusern und Pavillons, die wie horizontal durchfiletierte XXL-Kieselsteinchen scheinbar zufällig über die Fläche verstreut wurden. »Shenzhen ist eine der am schnellsten wachsenden Städte der Welt«, sagt Winy Maas, Chefarchitekt von MVRDV, »daher müssen wir uns überlegen, wie wir in Zukunft natürliche und künstliche Freiräume in Einklang bringen können.« Gemeinsam mit dem Landschaftsbüro Openfabric hat Maas in der chinesischen Megametropole zwischen Hongkong und Guangzhou dieses Stadtplanungsprojekt mit Wohnungen, Universität, Bibliothek, Theater und Galerien geplant. Unverkennbares Herzstück der sogenannten Shenzhen Terraces ist der zehn Hektar große Stadtplatz mit Bäumen und watteweichen Grashügeln.
Mit dem Wachstum der Städte und dem enger werdenden Grün- und Freiraum zwischen den Häusern scheint sich an der Schnittstelle zwischen innen und außen in den letzten Jahren eine neue Kultur künstlicher Outdoor-Spaces etabliert zu haben. Die Terrassen, die nicht nur wie kleine Balkönchen an der Fassade hängen, sondern die Architektur der Stadt maßgeblich mitformen, sind aber nicht nur eine attraktive Lebensraumerweiterung an der Frischluft, sondern auch ein wertvoller Klimaregulator in der von Überhitzung geplagten Stadt. »In Österreich kennen wir die Bautypologie der Terrassenhäuser aus den Siebziger- und Achtzigerjahren«, so der Wiener Architekt Martin Mostböck. »Danach sind sie wieder in Vergessenheit geraten. Nun aber scheinen die urbanen Terrassen eine gewisse Renaissance zu erleben, was vor allem auch ein wichtiger Beitrag für das lokale Mikroklima ist.« Je nach Himmelsrichtung und Bepflanzungsdichte kann die Temperatur durch CO2-Speicherung und Verdunstungskälte um einige Grad Celsius reduziert werden. So wie zum Beispiel beim Terrassenhaus Living Garden in der Seestadt Aspern in Wien, das aufgrund seiner Bauweise und der eingesetzten Materialien 959 von 1.000 erreichbaren Ökopunkten und somit die klimaaktiv-Auszeichnung Gold erhielt.
»Eine große Rolle bei Living Garden spielen die umlaufenden Balkone und Terrassen, die sich nach oben hin wie auf einem Kreuzfahrtschiff abtreppen und verjüngen«, erklärt der Architekt. Pflanzentröge mit Stauden und Lampenputzergras hüllen das Haus in ein weiches Blätterkleid. Temperaturfühler und eine automatische Bewässerung nehmen den Bewohnerinnen und Bewohnern das regelmäßige Gießen ab. An den Fassaden wurden die Freiflächen mit Paneelen aus Lärchenholz verkleidet, über den letzten Geschoßen kamen grüne Glasfaser-Pergolen zum Einsatz. Später einmal sollen die durchscheinenden Gitter mit Efeu und Veitschi zugewachsen sein. Bis dahin müssen sie als farbenfrohe Ersatznatur herhalten. Insgesamt wurde beim Living Garden fast ein Kilometer Geländer verbaut.
Der Siegeszug der geometrisch getrimmten und ästhetisch hochstilisierten Terrassen ist nicht mehr aufzuhalten – ob das nun im städtischen Einfamilienhausbau ist oder im großvolumigen Wohnbau mit 20 Stockwerken oder mehr. Auf dem Areal des ehemaligen Nordbahnhofs in Wien hat soeben der Bau des 60 Meter hohen Taborama begonnen. Natürlich mit grünen Terrassen – und mit einem atemberaubenden Panorama-Ausblick auf Wien. Ebenso »breathtaking« wird mit Sicherheit auch die Aussicht aus jenem Holzhochhaus sein, das Shigeru Ban in der kanadischen Pazifikmetropole Vancouver hinstellt. Umgeben von Alleen, baumbestandenen Plätzen und üppig begrünen Stufenterrassen vor der eigenen Wohnung wird man in die umgebenden Glastürme hineinblicken – und mit etwas Glück auf der anderen Seite der Avenue sein eigenes Spiegelbild erkennen können.
Die Terrassen-Renaissance ist noch lange nicht zu Ende. In unmittelbarer Nähe des Mount Fuji plant der dänische Architekt Bjarke Ingels mit dem Autobauer Toyota eine ganze Terrassenstadt: die Woven City. Auf 70 Hektar Land soll eine Hightech-City aus Holz mit Robotik, künstlicher Intelligenz und wasserstoffbetriebener Infrastruktur entstehen. Eines darf dabei selbstverständlich nicht fehlen: der Blick von der Terrasse auf den wichtigsten Berg Japans.