© Daria Scagliola & Stijn Brakkee/MVRDV Architecten

Produktive Nachbarschaft: Partner fürs Leben

Immer öfter werden öffentliche und private Nutzungen unter einem Dach kombiniert. Was nach Zweckgemeinschaft klingt, führt oft zu produktiven Nachbarschaften und ungewohnten Begegnungen. Denn die möglichen Mixturen sind nahezu unbegrenzt.

09.04.2021 - By Maik Novotny

Es gibt diese surrealen Momente im Leben, wenn Dinge zusammenkommen, die eigentlich nicht zusammengehören. Salvador Dalís Giraffen können ein Lied davon singen. Besonders surreal ist es, wenn diese Kollisionen sich an unerwarteten Orten ereignen. Und erst recht, wenn die Situation die Sachbearbeiterin des Finanzamts involviert. »Unser Termin ist ­um 13 Uhr, ich hole Sie dann am besten im Shoppingcenter ab, neben dem Asia-Imbiss, von dort gehen wir dann in mein Büro.« So geschah es, und die surreale Kombination von Einnahmen-Ausgaben-Rechnungen und Nudel-Bowls machte die Angst vor der Steuerprüfung gleich weniger schlimm.

STÄDTISCHE SCHICHTTORTE

Der Ort, an dem sich dies zutrug: Wien-Mitte. Die Geschichte dieses Orts ist eine von vielen städtischen Verwicklungen geprägte. Jahrzehntelang waren der Bahnhof und der Raum über seinen Gleisen Objekt der hitzigsten Architekturdebatte der Stadt. Man stritt über Hochhaus-Cluster und Profite, Architektenteams und Investoren gaben sich die Klinke in die Hand. Heute ist Wien-Mitte Teil des Alltags: unten Bahn und U-Bahn, darüber drei Geschoße Shoppingmall, und wieder darüber türmen sich die Büros, in denen mehrere Wiener Finanzämter zusammengelegt wurden. Eine Art städtische Schichttorte.

Das Surreale ist heute realer geworden, denn Public-private-Partnerships, also Kombinationen von öffentlichen und privaten Nutzungen unter einem Dach, werden immer häufiger: Die öffentliche Hand spart sich teure Errichtungskosten, Investoren kassieren dafür Miete – ordentliche Budgets auf beiden Seiten, erst recht, seitdem die EU-Kriterien den Kommunen Einmal-Investitionen in öffentliche Bauprojekte erschwert haben. 

Die Mixtur kann dabei wild variieren. In Wien-Atzgersdorf beispielsweise wurden ein Großsupermarkt und eine Schule übereinandergeschichtet – mit Sportplatz auf dem Dach. Keine übliche »Einzelhandelsschachtel« mit Parkplätzen also, sondern ein lebendiger Ka-talysator für die Entwicklung des gesamten Viertels. »Mit diesem Bauteil im Herzen der Anlage konnten wir ein ganz außergewöhnliches Konzept realisieren, das österreichweit seinesgleichen sucht: Unser multifunktionales Gebäudekonzept, das Nahversorgung, Bildung und Sport kombiniert, spart Platz und schafft die nötige Infrastruktur für die Bewohner«, freute sich auch der Bauherr, BUWOG-Geschäftsführer Andreas Holler, bei der Eröffnung im Juli 2020.

Die Idee, wie auch der Masterplan für das gesamte Gebiet, stammt von den Architekten Lorenzateliers. Die Ganztagsvolksschule wurde dabei um ein zentrales Atrium herum gebaut, das wie ein Marktplatz funktioniert. Urbane Verdichtung statt Parkplatz-Ödnis. »Ich glaube, wir haben alle eine Grundsehnsucht nach Stadt«, sagt Architekt Peter Lorenz. 

Einer solchen folgt auch der niederländische Architektur-Chefdenker Rem Koolhaas seit Langem. Schon in seinem Manifest »Delirious New York« schwärmte er 1978 vom legendären Downtown Athletic Club im Manhattan der 1930er-Jahre, ein Wolkenkratzer, in dem Boxringe, Schwimmbäder, Restaurants, Wohnungen und ein Golfplatz wild übereinandergestapelt waren. Also mitten in der niederländischen Hafenstadt.Hier formen die 228 Wohnungen Dach und Wand für die Halle in der Mitte. Die tonnenförmige Innenseite schmückt ein 11.000 Qua­dratmeter großes Kunstwerk von Arno Coenen und Iris Roskam, dessen üppig-bunt wuchernden übergroßen Früchte und Insekten an niederländische Stillleben erinnern. Zwischen Banane und Käfer lugen die Bewohner in die Halle hinab. Surrealismus mit Spaßfaktor.

Der Däne Bjarke Ingels wiederum brachte die Public-private-Partnership nach New York City. Sein Wohnbau an der East 126th Street in Harlem, dank der freundlich gekurvten Fassade »The Smile« getauft, ist keine reine Apartmentburg, die noch den letzten verwertbaren Quadratzentimeter aus dem Volumen herausquetscht, sondern bietet einen Kindergarten, ein Gym sowie eine Dachlandschaft mit Swimmingpool, Aussichtsdeck und Wiese. Gute Nachbarschaft mit Blick auf die Skyline. Sehnsucht nach Stadt.

WOHNZIMMER FÜR BÜRGER

Ganz selbstverständlich und schon immer da gewesen ist die Public-private-Partnerschaft in den skandinavischen Ländern, wo Rathäuser mehr Wohnzimmern für Bürger als ehrfurchtgebietenden Palästen gleichen. Klar also, dass sich die Stadtplanungsbehörde von Helsinki dieser Tradition verpflichtet sah, als sie ihr neues Amtshaus im Stadtviertel Kalasa-tama konzipierte. »Im Geiste der nordischen Gesellschaft und der bürgerlichen Demokratie bestehen die unteren beiden Geschoße des Gebäudes fast ausschließlich aus öffentlichen Flächen«, so -die Architekten Ilmari Lahdelma und Rainer Mahlamäki. Eigentlich einleuchtend: Was von Steuergeld bezahlt wird, gehört auf gewisse Weise allen Bürgern, also warum sollten diese nicht ins Foyer schlendern und dort Kaffee trinken? Zum Termin mit dem Planungsbeamten ist es dann nur mehr ein kleiner Schritt.

Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 02/2021

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