© Zooey Braun

Aus altem Glas, kaputten Jeans und ausgetrunkenen Tetra Paks können neue, nachhaltige Baustoffe entstehen. Mit viel Geschick führt dieses ökologische Bekenntnis zu einer besonders sensationellen Recyclingarchitektur. Beispiele gefällig?

30.03.2022 - By Wojciech Czaja

Wo ist das Glas? Wo hört die Mauer auf? Und wo fängt die Nebeldecke an? Das lässt sich bei der Villa R. in Vahrn nicht so leicht sagen. Diffus fließen die Baustoffe ineinander, die Grenzen wirken wie mit einem Photoshop-Weichzeichnungsfilter aufgelöst und verschwommen. »Wir wollten mit dem alpinen, oft diesigen Leerraum arbeiten und die umschließenden Mauern
in diesem Haus so luftig und leicht wie nur möglich gestalten«, sagt Architekt Gerd Bergmeister, der gemeinsam mit seiner Partnerin Michaela Wolf das in Brixen, Südtirol, beheimatete Architekturbüro bergmeisterwolf leitet. »Dank dem vertikal versetzten Profilglas, das das Haus wie eine weiche Haut umhüllt, ist diese Metapher Wirklichkeit geworden. Der Bau wirkt ruhig und geheimnisvoll.«

Doch noch ein ganz anderes als bloß das visuelle Geheimnis liegt in diesem Projekt verborgen. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Einfamilienhäusern, in denen nur das Beste und Neueste gut genug ist, um verbaut zu werden, kamen in der 380 Quadratmeter großen Villa einige Recyclingbaustoffe zum Einsatz. Bei den charakteristischen Profilgläsern handelt es sich um wiedereingeschmolzenes Flaschenglas, und auch beim Putz wurde auf Recycling gesetzt: Die eingemischten Glassplitter lassen die grüne Putzschicht einen Hauch glasiger und transparenter erscheinen. Die funkelnden Fragmente reflektieren das Sonnenlicht in alle Himmelsrichtungen.

Andernorts ist die Recycling-Menükarte noch wilder. Auf dem Gelände der ETH Zürich in Dübendorf, ein paar Tramstationen von der Innenstadt entfernt, wurde vor einigen Jahren ein recht schmuckloses Betonhaus errichtet, das sich selbst als eine Art XXL-Regal für bautechnische Innovationen versteht und sukzessive mit neu entwickelten Modulen nachhaltigen Bauens gefüllt wird. Der jüngste Baustein, der im zweiten Ober­geschoß mit einem Autokran zwischen die beiden Betondeckel hineingeschoben wurde, hört auf den Namen UMAR (Urban Mining and Recycling) und ist ein Exempel für Bauen mit wiederverwendeten und wiederverwer­teten Materialien aus der Bau- und Konsumgüterindustrie.

Früher war ökologische Architektur meist ein Synonym für Entsagung und Verzicht. Doch das ist vorbei. Recycling kann richtig chic sein!

Roland Bechmann, Partner im Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek

Badezimmerfliesen aus eingeschmolzenen Schneidbrettern? Ziegelsteine aus zertrümmerten Kloschüsseln? Trockenbauwände aus gepressten Tetra Paks? Und Wärmedämmung aus geschredderten Jeans? »Ja, das geht, und es war ein unglaublich großer Aufwand, all diese Produkte am Markt zu finden beziehungs­weise mit den Produzent:innen gemeinsam zu entwickeln«, sagt Roland Bechmann. »Aber die Recherche, die uns monatelang auf Trab gehalten hat, beweist, dass die Baubranche reif dafür ist.« Das ungewöhnliche Projekt lockt Architekturschaffende und Studierende aus aller Welt und soll in den kommenden Jahren auf Herz und Nieren geprüft werden.

»Das Schöne an diesem Bau«, meint ­Bechmann, Partner im Stuttgarter Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek, der das Projekt in Zusammenarbeit mit Dirk E. Hebel und Felix Heisel vom Karlsruher ­Institute of Technology (KIT) entwickelte, »ist die Tatsache, dass wir im nachhaltigen Bauen längst keine ästhetischen Kompromisse mehr eingehen müssen. Früher war öko­logische Architektur meist ein Synonym für Entsagung und Verzicht. Doch das ist ­vorbei. Recycling kann richtig chic sein!«

Genutzt wird die rund 125 Quadratmeter große Showcase-Box am ETH-Campus als Studierenden-WG für bis zu vier Personen. Bei Interesse müssen die hier Wohnenden die neugierigen Gäste in Empfang nehmen und ihnen eine Führung durch die Räumlichkeiten geben. Manche Dinge erklären sich ganz von allein, für die etwas versteckteren Werte hinter Wänden und Boden­aufbauten kann eine informative Broschüre zurate gezogen werden. 152 Seiten voller Aha-Erlebnisse.

»Wir beschäftigen uns schon lange mit der Triple-Zero-Thematik, also null fossile Energien, null Emissionen, null Müll«, sagt Bechmann. Die Kupferbleche an der Fassade, mit denen das große Panoramafenster eingerahmt wurde, wurden von verschiedenen Bauwerken in der Umgebung zusammengetragen und weisen unterschiedliche Oxidationsgrade auf. Und die Türknäufe stammen aus einem Bankgebäude in Brüssel und kommen nun als leicht zerkratzte Vintage-Produkte ein zweites Mal zum Einsatz.

Hinzu kommt, dass im ganzen Haus auf Kleben und Verbundstoffe verzichtet und stattdessen mit Schrauben und Klemmen gearbeitet wurde. Laut eigenen Angaben ist das zum überwiegenden Teil im Holzwerk vorgefertigte UMAR nach Ablauf seiner Lebenszeit zu 98 Prozent dekonstruierbar und wiederverwertbar. Der Sondermüll, der üblicherweise den Großteil der Baggerschaufel ausfüllt, beläuft sich demnach auf gerade mal zwei Prozent. Das ist Weltrekord. Bechmann: »Nur so können wir langfristig Kreislaufwirtschaft garantieren.«

In anderen Ländern wiederum hat sich in der Zwischenzeit ein eigener Branchenzweig etabliert. Rotor in Belgien, Bellastock in Frankreich, Concular in Deutschland und die Materialnomaden in Österreich sind ­permanent auf der Suche nach hochwertigen, unbeschädigten Baustoffen, die sie aus Sanierungs- und Abbruchhäusern ausbauen, aufwendig reinigen und in einem Onlineshop für ein Leben nach dem Gebäudetod übersichtlich zusammenstellen. Dazu zählen Fliesen, Kacheln, Fenster, Türen, Beschläge, Kabeltassen, Eisengeländer, Schallschutz­paneele und sogar jahrzehntealte Parkett­böden. Zahlreiche international beachtete Best-Practice-Projekte in Wien, Paris und Brüssel sind in den letzten Jahren entstanden.

Dass die Arbeit mit kreislauffähigen Recyclingbaustoffen noch ungeahnte Potenziale birgt, beweist ein Forschungs- und Entwicklungsprojekt des norwegischen Architekturbüros Snøhetta. In Zusammenarbeit mit Common Sands und Studio Plastique haben die Architekten eine neue Art von Mosaikfliesen entwickelt, ganz nach dem Vorbild von Bisazza – bloß stammt der Rohstoff dazu nicht aus den Glasmanufakturen im Veneto, sondern aus alten Mikrowellen,
eingeschmolzenen Kunststoffen und ­ausrangierten Computer-Leiterplatten.

Wir beschäftigen uns schon lange mit der Triple-Zero-Thematik, also null fossile Energien, null Emissionen, null Müll.

Roland Bechmann, Partner im Architektur- und Ingenieurbüro Werner Sobek

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