Foto beigestellt

Einerseits streben wir nach der Zukunft und wohnen smart mit Apps und neuen Technologien. Andererseits ist als Gegentrend dazu ein gewisser Backlash zu beobachten: Bio, Tradition und Regionalität boomen wie nie zuvor. Wo liegt die Wahrheit? Darüber sprechen ARWAG-Vorstand Thomas Drozda, die Weltraumarchitektin Barbara Imhof und der Etikette-Meister Thomas Schäfer-Elmayer.

04.04.2022 - By Wojciech Czaja

LIVING Was trifft eher auf Sie zu: Traditionalist:in oder Futurist:in?
Thomas Schäfer-Elmayer Man würde glauben, ich sei durch und durch Traditionalist, das sieht man auch an meiner Krawatte. Aber nicht nur! Im Wohnen bin ich eher untypisch. Meine Lebensgefährtin und ich wohnen – ungeplant – seit einiger Zeit in verschiedenen Wohnungen. Aber wir planen, so bald wie möglich gemeinsam an einen Wohnsitz zu ziehen, in dem jeder seinen eigenen Bereich hat.
Thomas Drozda Ich würde mich als zukunftszugewandten Menschen bezeichnen. Aber der Futurismus ist keine unproblematische historische Bewegung: Einerseits steht er für technischen Fortschritt, für den Glauben an die Maschine, andererseits aber auch für ein gewisses Desinteresse am Sozialen. Ich finde die soziale Komponente wichtig. Für einen Wohnbauträger wie die Arwag ist das ein zentraler Grundpfeiler.
Barbara Imhof In manchen Punkten bin ich sicher einer gewissen Tradition verhaftet. In Bezug aufs Wohnen aber bin ich wahrscheinlich alles andere als klassisch.

Inwiefern?
Imhof
Unsere Wohnung hat keine klassischen Zimmer, sondern eine gemeinsame Wohnzone mit mobilen Elementen, die man je nach Bedarf hin und her schieben kann. Das bezieht sich nicht nur auf den Wohn- und Kochbereich, sondern auch auf das Bad. Alles fließt ineinander.
Schäfer-Elmayer Ich habe mir im Wohnen diese Flexibilität auch gewünscht, aber Sonderwünsche sind teuer. Vor ein paar Jahren habe ich beschlossen, mir eine Neubauwohnung zu kaufen. Plötzlich kostet jede Fliese, die vom standardisierten Angebot abweicht, das Vierfache davon, was sie beim Fliesen König kostet. Auch bei der kontrollierten Wohnraumlüftung, die ich unbedingt haben wollte, musste ich ziemlich tief in die Tasche greifen. Da sind wir noch lange nicht in der Zukunft angelangt!

Die Baubranche befindet sich in einem enormen Transformationsprozess. Geplant wird mit digitalen Hilfsmitteln, gebaut wird mit computerbasierten Fertigungsmethoden, gewohnt wird mit Apps und Technologien. Was bedeutet das für den Wohnbau?
Drozda
Sie haben recht, die Baubranche ist derzeit mit enormen Herausforderungen konfrontiert. Steigende Preise für Baustoffe wie Holz, Stahl, Zement und Dämmstoffe kollidieren mit der Aufgabe, Wohnen als Grundrecht leistbar zu gestalten. Hinzu kommt, dass wir die CO2-Emissionen massiv reduzieren müssen. Die Digitalisierung muss dazu beitragen, dass gewisse Prozesse standardisierbar und skalierbar werden – und dass die Industrialisierung von Produktionsprozessen Kostenvorteile ermöglicht. Durch computerbasiertes Arbeiten mit Building Information Modeling (BIM) und durch voll automatisierte Vorfabrikation müssen Bauen, Erhaltung und Betrieb à la longue billiger werden.

Der Krawattenskeptiker Thomas Schäfer-Elmayer hat bereits überlegt, die Krawattenpflicht in seiner Tanzschule Elmayer abzulegen. Doch ganz offensichtlich gibt es derzeit einen Run auf das Traditionelle.

Ich bin ein kritischer Freund des Fortschritts und der digitalen Entwicklung. Aber ich beobachte auch, dass die Digitalisierung im Alltag zu einer neuen Form der Einsamkeit, der Isolation, der Anonymisierung führt.

Thomas Schäfer-Elmayer, Etikette-Meister

Also ist Digitalisierung nur ein wirtschaftlicher Faktor?
Drozda
Nein. Auch im Sozialen und in der Einbindung von Kunden sehe ich große Chancen. Wenn man ein neues Auto kauft, kann man in einem Onlinekonfigurator aus mehreren Optionen sein persönliches Wunschauto zusammenstellen. Das müsste es im Wohnbau auch geben. Technisch und logistisch wäre das schon längst möglich!

Jetzt haben wir über Digitalisierung beim Planen und Bauen gesprochen. Wie ist das beim Wohnen?
Drozda
Sie meinen Smart Living? Die neuen Apps und Technologien im Wohnbau verändern das Bewusstsein um Energie­verbrauch, Stromkosten und ökologischen Fußabdruck. Mein Gefühl ist, dass die Smart-Living-Devices nur vordergründig mit Komfort und Infotainment zu tun haben. Pro futuro aber geht es um mehr – nämlich um eine Bewusstseins- und Effizienzstei­gerung im Umgang mit unseren materiellen und energetischen Ressourcen.
Schäfer-Elmayer Ich habe früher in einem deutschen Metallkonzern die Sparte Reinstmetalle geleitet. In dieser Zeit war ich häufig in Japan. Smarte Technologien gibt es dort schon seit den Siebzigern! Flachbildschirme, vollautomatische Wohnungen, Roboter als Haushilfen und so weiter konnte ich bereits 1980 im Matsushita Research Center in Osaka kennenlernen.
Imhof Japan war in dieser Hinsicht immer schon viel weiter. Da gibt es einen viel selbstverständlicheren Zugang zu Digitalisierung und zu automatisierten Fertigungsprozessen.

Frau Imhof, als Architektin widmen Sie sich weniger dem Irdischen als vielmehr dem Himmlischen. Wie schauen denn diese automatisierten Systeme im Weltraum aus?
Imhof
Hier treffen viele komplexe Rahmenbedingungen aufeinander. Im Weltraum ist man im Vakuum, in der Schwerelosigkeit und noch dazu in einem autarken, abgeschlossenen System, das weder Ressourcen verbrauchen noch Abfall produzieren darf. Frischluft, Luftdruck, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Wasser, Luftreinigung und Wiederaufbereitung von Urin, Abwasser und Fäkalien müssen so automatisiert sein, dass der Energie- und Rohstoffkreislauf möglichst lückenlos funk­tioniert. Hinzu kommt, dass die gesamte Besatzung in der Lage sein muss, alle Systeme bedienen und reparieren zu können. Schnell mal den Elektriker oder Installateur anrufen, weil irgendwas nicht funktioniert – das spielt’s da oben nicht.
Drozda Ich dachte, ein Flug zur Raumstation wäre ohnehin autopilotmäßig organisiert und werde vom Kontrollzentrum auf der Erde mehr oder weniger ferngesteuert …
Imhof Im Standardmodus ja. Im Notfall aber werden die Systeme von den Astro­naut:innen übersteuert und manuell bedient.

Können Sie ein Beispiel für eine typische ­Weltraumtechnologie nennen?
Imhof
Ein banales, aber wichtiges Beispiel ist die Lichtsteuerung. Auf der Erde haben wir einen 24-Stunden-Rhythmus. Den gibt es im Weltraum nicht. Damit unser Biorhythmus nicht komplett durcheinandergerät, müssen wir Tag und Nacht mit einer entsprechenden Lichtprogrammierung simulieren.

Ist der Weltraum smarter als die Erde?
Imhof
Ja. Es braucht zwangsweise einen höheren Grad an Automatisierung. Und es braucht unbedingt eine hohe Resilienz und eine möglichst geringe Anfälligkeit gegen Schäden und unvorhersehbare Ereignisse.
Schäfer-Elmayer Von solchen smarten Systemen kann man auf der Erde nur träumen!

Wie meinen Sie das?
Schäfer-Elmayer
Theorie und Praxis klaffen weit auseinander. Die Spezialist:innen,
die eine Technologie entwickeln oder eine App programmieren, leben oft in einer ganz anderen Welt als wir Nutzer:innen und Konsument:innen. Manche Dinge sind ineffizient und kompliziert, manchmal sogar nahezu unbrauchbar.
Drozda Dem kann ich nur zustimmen. Viele Technologien sind technikgetrieben, sodass die Kundenfreundlichkeit auf der Strecke bleibt. Das ist weder smart noch futuristisch, sondern schlicht und einfach am Bedarf vorbei konzipiert. Die Erfolgreichen – von Amazon bis Apple – verstehen Kund:innen und Technik gleichermaßen.

Was schlagen Sie vor? Wie kann man dieses Problem lösen?
Drozda
Wir als Bauträger müssen den Markt kennen und in der Lage sein, aus möglichst vielen Produkten und Technologien die richtigen zu wählen. Im Idealfall stehen wir in Kontakt mit der Industrie und geben unmittelbares Feedback. Aber das geht nicht immer.
Imhof Was ich aus meiner Expertise berichten kann: Das Leben und Arbeiten im Weltraum ist so komplex und beinhaltet so viele Faktoren und Parameter, dass wir für jede Mission, für jeden Prozess, letztendlich für jeden einzelnen Handgriff eine Task-Analysis – also eine Art Regieskript – erstellen und ein Szenario in allen Varianten und Eventualitäten durchspielen. Nur so können wir garantieren, dass eine Technologie in allen hypothetischen Situationen funktioniert. So eine Task-Analysis wäre manchmal auch auf der Erde empfehlenswert.

Herr Drozda, Herr Elmayer, würden Sie so ein Wohnmodul jemals ausprobieren wollen?
Drozda
Jederzeit! Ich fände das sehr spannend. Ich finde diese kreislaufwirtschaftlichen Überlegungen überzeugend. Außerdem finde ich, dass der Blick in den Weltraum eines der faszinierendsten Bilder der Menschheit ist. Ich denke nur die Arbeiten von ­Thomas Ruff.
Schäfer-Elmayer Ich niemals, absolut unvorstellbar! Weder wohnen noch ausprobieren. Ich brauche den Ausblick und die frische Luft. Mir ist im Corona-Lockdown die Decke schon auf den Kopf gefallen. Will gar nicht erst ausprobieren, wie das da oben wäre!

Die Schwerelose Barbara Imhof ist auf die Planung von Raum-stationen und Mondhabitaten spezialisiert. Von den technischen Prinzipien im Weltraum, sagt sie, könnten wir auch unten auf der Erde profitieren.

Japan war in Hinsicht auf neue Technologien immer schon viel weiter. Da gibt es einen viel selbstver­ständlicheren Zugang zu Digitalisierung und zu automatisierten Fertigungsprozessen.

Barbara Imhof, Weltraumarchitektin

Neben der zunehmenden Digitalisierung ist in den letzten Jahren ein gewisser Backlash zu beobachten. Viele Menschen besinnen sich ­wieder auf alte Materialien und handwerkliche Baumethoden. Im Fokus stehen Bio, Tradition und Regionalität. Wie erklären Sie sich dieses Phänomen?
Schäfer-Elmayer
Ich bin ein kritischer Freund des Fortschritts und der digitalen ­Entwicklung. Vieles ist hilfreich und durchaus faszinierend. Aber ich beobachte auch, dass die Digitalisierung im Alltag zu einer ­neuen Form der Einsamkeit, der Isolation, der Anonymisierung führt. Menschen sitzen zu zweit im Restaurant oder stundenlang nebeneinander im Flieger, und anstatt uns miteinander zu unterhalten, schauen wir die ganze Zeit ins Handy und verbringen die Zeit allein in unseren Bubbles. Ich glaube, dass in diesem euphorischen Zeitalter der Digitalisierung ein Fokus auf die gute alte analoge Welt nicht verloren gehen darf. Wir sind in einem neuen Biedermeier.

Wie sieht dieses Biedermeier aus?
Schäfer-Elmayer
Es ist eine Rück­besinnung auf sinnvolle Traditionen und erprobte Werte – beispielsweise Qualität, Gesellschaftsleben, gemütliche Atmosphäre sowie hochwertige Ernährung. Auch die Einrichtung der Wohnung rückt wieder in den Mittelpunkt. Nicht zu vergessen menschliche Umgangsformen, die wieder en vogue sind.

Müssen wir diese Aspekte wieder neu lernen?
Schäfer-Elmayer
Eine kleine Auffrischung kann man immer gut gebrauchen. Zum Beispiel, indem man eines meiner Seminare besucht.
Drozda Funktioniert Ihre Tanzschule noch immer so richtig mit Krawatte und weißen Handschuhen?
Schäfer-Elmayer Ja! Intern habe ich in unserem Team zur Diskussion gestellt, ob wir die Krawattenpflicht nicht ad acta legen sollten. Meine Kolleg:innen, die alle mehr als 40 Jahre jünger sind als ich, haben mich ganz erstaunt gefragt, ob ich das wirklich ernst meine.
Imhof Für mich ist das Ausdruck einer gewissen Sehnsucht nach Sicherheit. Die Art, wie wir wohnen, wie wir arbeiten, wie wir uns kleiden, ist immer auch ein Spiegel des aktuellen Status quo unserer Gesellschaft. Wobei ich eines sehr spannend finde: Eigentlich hat sich die Gesellschaft in den letzten Jahren massiv verändert. Lebensmodelle und soziale Bindungen funktionieren heute ganz anders als noch vor 20, 30 Jahren. Erstaunlich, dass die Architek­tur, in der diese Sozialisation ­stattfindet, eigentlich grosso modo nach wie vor unverändert ist.

Der Kreislaufprofi Thomas Drozda, Vorstand der gemeinnützigen Arwag, sieht in den neuen Technologien die große Chance, endlich bewusster mit unseren Energie- und Materialressourcen umzugehen.

Die Digitalisierung muss dazu beitragen, dass gewisse Prozesse standardisierbar und skalierbar werden – und dass die Industrialisierung Kostenvorteile ermöglicht.

Thomas Drozda, Vorstand der ARWAG

Säulen, Kapitelle, Balustraden: Das ist doch auch im Bausektor zu finden, oder?
Drozda
Im sozialen Wohnbau gibt es das nicht, denn da gibt es ein ganz klares Bekenntnis zu zeitgenössischer Architektur. Abgesehen davon, dass das Budget für dorische Säulen und Balustraden schlicht und einfach nicht da ist. Im exklusiven, frei­finanzierten Immobiliensektor jedoch findet sich die Sehnsucht nach diesen pseudo­historischen Werten. Und wenn ich mir das sehr erfolgreiche Warenhaus Manufactum anschaue, das mit dem Slogan »Es gibt sie noch, die guten Dinge« wirbt, dann ist eine gewisse Vergangenheitssehnsucht nicht zu leugnen.
Imhof In den USA ist das gang und gäbe. Da sucht man sich bei den Architekt:innen aus, ob das Haus wie in der Toskana, wie in der Provence oder wie im spanischen Kolonialismus aussehen soll.

Mit der neuen Berliner Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt wurde kürzlich eine ultra­konservative Architektin ins Amt gehoben. In der Architekt:innenschaft löste dies eine Welle der Empörung aus.
Drozda
Ja, und das beweist, dass wir es in Zukunft mit vielen parallelen Entwicklungen zu tun haben könnten.
Schäfer-Elmayer In Wien gibt es alles. Wir leben in einer Gleichzeitigkeit von ­Tradition und Futurismus.
Imhof In Science-Fiction-Serien wie etwa »Star Wars« oder »Star Trek« sieht man immer wieder, dass die Utopie oft als etwas sehr Archaisches dargestellt ist. Sobald man das Tor in die ferne Zukunft betritt, steht man plötzlich im alten Ägypten oder in der griechischen Antike.

Zum Abschluss: Von welcher Tradition in Ihrem persönlichen Wohn- und Lebensalltag würden Sie sich niemals trennen wollen?
Imhof
Von meinem Küchentisch.
Schäfer-Elmayer Von meiner Aussicht.
Drozda Vom Baustoff Holz.

Und wovon träumen Sie?
Imhof
Von der selbstreinigenden Wohnung.
Drozda Davon, dass wir in der Lage sind, digitale Erfahrungen in unseren Alltag einfließen zu lassen, ohne uns im großen Stil im Metaverse von Herrn Zuckerberg einzukaufen.
Schäfer-Elmayer Von einem besseren Umgang mit unseren Ressourcen.

Die Living-Salon-Gesprächspartner

Thomas Schäfer-Elmayer (76) studierte Wirtschaft und war viele Jahre in leitenden Positionen in der Chemie- und Metallindustrie tätig. Berufliche Tätigkeit in der Schweiz, Deutschland, Norwegen und Südafrika. 1987 übernahm er die Tanzschule Elmayer in der Wiener Innenstadt. Er ist Autor zahlreicher Bücher zum Thema Benehmen und leitet traditionelle Balleröffnungen und Seminare für Business-Etikette. etikette.at

Barbara Imhof (53) studierte Architektur sowie Space Studies an der International Space University in Straßburg. 2003 gründete sie ihr eigenes Büro Liquifer, das auf Weltraumarchitektur spezialisiert ist. Sie leitete Arbeitsgruppen für die ESA und ist Mitglied des Space Architecture Technical Committee (SATC) am American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA). liquifer.com

Thomas Drozda (56) studierte Betriebs- und Volkswirtschaft und war in den 1990er-Jahren als Wirtschafts- und Kulturberater in der Bundesregierung tätig. Er war Geschäftsführer des Wiener Burgtheaters, Generaldirektor der Vereinigten Bühnen Wien sowie von 2016 bis 2017 Bundesminister für Kunst und Kultur, Verfassung und Medien. Seit April 2021 ist er Vorstand des Wiener Bauträgers ARWAG Holding-AG. arwag.at

Für den LIVING Newsletter anmelden

* Mit Stern gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Anrede

Lifestyle & Genuss – das sind die zentrale Themen der Falstaff-Magazine. Nun stellen wir das perfekte Surrounding dafür in den Mittelpunkt. Das Ambiente beeinflusst unsere Sinneseindrücke – darum präsentiert Falstaff LIVING Wohnkultur und Immobilien für Genießer!

JETZT NEU LIVING 24/03