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Langer Atem für Raum und Kunst

Zwei spektakuläre Museumsprojekte und eine Handschrift: Der britische Architekt David Chipperfield hat mit puristischer Eleganz das Kunsthaus Zürich und die Neue Nationalgalerie in Berlin erneuert.

23.09.2021 - By Uwe Killing

Sir David Chipperfield schreitet langsam über den  weichen Boden. Ein Teppich in einem Museum? Heute nicht mehr en vogue. Doch Ende der 1960er-Jahre, als die Neue Nationalgalerie in Berlin erbaut wurde, bestand ihr Schöpfer Mies van der Rohe auf Schurwolle als Bodenbelag, den er aus den USA importieren ließ. »So viel Mies wie möglich – das war mein Anspruch«, sagt Chipperfield, als er einen Tag vor ihrer Wiedereröffnung die Räume der zuvor für zehn Jahre geschlossenen architektonischen Weltschönheit noch einmal begeht.

Der in London geborene Architekt hat die Restaurierung mit seinem Berliner Team bewerkstelligt. Auf die Frage, wie viel Chipperfield darin steckt, antwortet der 67-Jährige mit britischer Noblesse: »Priorität müssen immer die grundlegenden Qualitäten einer Architektur haben. Ich mag es nicht, wenn ein Projekt überladen ist oder erzählt, wie clever der Gestalter war.« Einer der bedeutendsten Architekten der Gegenwart zeigt nicht nur großen Respekt vor einem Monument der Moderne. Er hat sich gewissermaßen auch in eine mehrjährige Lehrzeit begeben.

Chirurgische Arbeit

»Ein Gebäude von solch unantastbarer Autorität zu zerlegen«, sagt Chipperfield, «war ein Privileg.« Und dann schildert er beim Rundgang in genauen, von einem subtilen Augenzwinkern begleiteten Ausführungen, wie sein Team 35.000 Teile chirurgisch abbaute, erneuerte und neu zusammensetzte. Sensible Veränderungen gehörten dazu, damit der gläserne Flachbau mit seinem schwebenden Stahldach neu erstrahlt. Chipperfield: »Hinter die Fassade zu blicken, hat meine Bewunderung für Mies’ Vision nur verstärkt.«

In der Frage »Teppich oder nicht?« unterstrich der Architekt, wie beharrlich und detailversessen er sein kann: Im Widerspruch zu etlichen Experten plädierte er dafür, im Untergeschoß graublauen Teppich wie vor mehr als 50 Jahren auszurollen. Ein Veto gegen Beton, ein Baustoff, mit dem Chipperfield ansonsten sehr gerne arbeitet. Weil er puristisch wirkt, zudem andere Materialien gut zur Geltung bringen kann.

»Ich mag es nicht, wenn ein Projekt überladen ist oder erzählt, wie clever der Gestalter war.«
Sir David Chipperfield (Architekt)

Schöne Klarheit

Parallel zur Neuen Nationalgalerie arbeitete das Büro Chipperfield Architects, das zuvor schon mit der Modernisierung der Berliner Museumsinsel für Furore gesorgt hatte, an einem zweiten Großprojekt – dem Erweiterungsbau des Kunsthauses Zürich (Eröffnung: 9. Oktober). Es ist ein Neubau. Dennoch gibt es eine Gemeinsamkeit: Auch das vom Schweizer Karl Moser 1910 entworfene Kunsthaus stellte mit seiner gradlinigen Außenfassade und dem Jugendstil-Interior einen Bruch mit herrschaftlichen Repräsentationsbauten vorangegangener Epochen dar. David Chipperfield fühlt sich diesem Geist sehr nahe, und er hat aus dem Ansatz des Minimalismus eine virtuose, überwältigend stilsichere Formensprache entwickelt.

»Über allem steht bei ihm die Idee von Klarheit und Einfachheit«, bestätigt Architekt Christoph Felger vom Büro Chipperfield. Der von einer Gitterfassade aus Jura-Kalkstein geprägte Erweiterungsbau hat die Anmutung eines Bunkers, der aufgrund seiner Löchrigkeit jedoch nicht klobig wirkt. Chippendale versteht es, mit Spannungsbögen zu arbeiten. So betritt man eine lichtdurchflutete Eingangshalle, die die Atmosphäre einer weiten Piazza verströmt. Von ihr führen die Wege zu den Ausstellungsebenen, die immer wieder optisch akzentuiert werden – mit warmen Eichenböden, gezielten Farbmomenten oder dünnen Linien aus Messing. Es ist eine Ästhetik, die von handwerklicher Präzision zeugt und gleichzeitig leichthändig mit dieser umgeht. Die Elemente und überraschenden Details prägen ein Raumgefühl, das bei allen historischen Bezügen offen und zeitlos elegant wirkt.

Leichtfüssige Grösse

In den neuen Räumen mit einer Fläche von 5000 Quadratmetern werden Kunstwerke des 21. Jahrhunderts zu sehen sein, wodurch das Kunsthaus Zürich auf 11500 Quadratmeter – und damit zum größten Kunstmuseum der Schweiz angewachsen ist. Diese Größe hat in der Züricher Kulturszene durchaus zu skeptischen Stimmen geführt. David Chipperfield: »Das ist ganz normal. Auch Mies hatte Probleme mit der Akzeptanz, bevor seine Nationalgalerie eröffnet wurde.«

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Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 06/2021

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