© Andreas von Einsiedel/Living4Media

Landpartie: Wie Country Houses den Balanceakt zwischen Prunk und Lockerheit schaffen

Britische Country Houses schlagen seit Jahrhunderten eine Brücke zwischen Tradition und Moderne, Prunk und Lockerheit. Das Geheimnis ihres Erfolges? Viel Komfort, viel Natur und ein Mut zum Mix von Farben, Möbel und Textilien.

09.09.2021 - By Maik Novotny

Vorspann: Drohnenflug über neblige Wiesen im Morgen, eine schmale kurvige Straße, eine Allee. Tonspur: Pferdegewieher in der Ferne, aufgekratztes Streichquartett. Dann lichtet sich der Nebel, ein Quader aus Granit wird sichtbar, Zoom auf Zinnen und Türme, Giebel und Erker und der standesgemäße Driveway aus knirschendem Kies. Vorspann Ende.

BRITISCHES UNDERSTATEMENT

Ein typischer Auftakt der Serienfolgen von »Downton Abbey« oder »The Crown«. Englische Country Houses sind als opulenter TV-Schauplatz für Intrige und Romanze heute wieder populär, aber nicht nur das: Auch im realen Leben werden viele von ihnen wiederentdeckt und mit neuem Leben gefüllt. Das geschieht mit demselben britischen Understatement, das schon den Namen selbst prägt. »Country House« mag nach Wochenend­domizil klingen, doch manche von ihnen wie Wentworth oder Blenheim sind größer als Buckingham Palace. Eine besondere Herausforderung für Besitzer und Designer – erst recht, wenn diese Rollen zusammenfallen. Als Tom Helme und seine Partnerin Lisa Ephson das schottische Carskiey House auf der Halbinsel Kintyre erwarben, wurde das Interieur zur Lebensaufgabe. Ephson ist Designerin, Helme war Berater der Künstlerzubehör-Institution Farrow & Ball, bevor er das Textilunternehmen Fermoie gründete. Klar, dass in Schottland zum Farbtopf gegriffen wurde.

»Als wir vor zehn Jahren hier ankamen, gab es kein einziges farbiges Zimmer, alles war weiß,« erinnert sich Helme auf LIVING-Anfrage. »Wir haben uns dann an den Natursteinwänden orientiert und mit deren Farbspektrum gespielt. Je weiter man ins Haus kommt, desto farbiger wird es, bis zu den roten und blauen Badezimmern.« Weitere Inspiration holten sie sich aus der Vergangenheit. Der Übergang von harten Böden und klaren Linien zu weichen, textilen und bunten Räumen war typisch für das 18.Jahrhundert.

»Textilien sind der Schlüssel zum Interieur«, betont Helme. »Am besten, man fängt mit dem Teppich an, weil dessen Größe und Farbe den ganzen Raum definieren«. Dass in Carskiey ausschließlich Textilien von Fermoie zum Einsatz kamen, bis hin zum Lampenschirm, versteht sich von selbst. In Kombination mit vielen Erbstücken ergab sich die typisch britische Balance zwischen Tradition und Moderne, denn eines darf nie fehlen: der Komfort. Dazu gehören Fenstersitze für den Ausblick auf die schottische Küste und ein betont lässiger Esstisch im riesigen Speisesaal.  »Während des letzten Lockdowns haben wir in jedem Schlafzimmer des Hauses eine Woche verbracht, um dessen Komfortlevel zu optimieren«, erzählt Tom Helme.

Ein weiterer wichtiger Schlüssel zum Komfort, sagt der Buchautor und Country-House-Experte Jeremy Musson, liegt im Garten. »Die Verbindung zwischen dem Innen und Außen ist hier traditionell sehr stark. Ein typisch englisches Detail sind frische Blumen aus dem Garten, die betont informell arrangiert werden. Diese Lockerheit gleich die Formalität der Architektur aus.« Der Bezug zum Garten, so Musson, findet sich in heutigen Country-House-Interieurs auch bei den natürlichen Wandfarben und (gerne orientalischen) Textilien.

MUTIGER MIX

Ein Mut zum Informellen trieb auch die
Designerin Francesca Rowan Plowden beim Redesign des Landsitzes Battel Hall in der Grafschaft Kent an, dessen älteste Teile um das Jahr 1330 entstanden. Um die richtigen Möbel zu finden, durchstreifte sie zahllose Antiquitätenmärkte und verfeinerte Schritt für Schritt die Rezeptur für jedes einzelne Zimmer des Hauses. »Ich habe früher im Theater gearbeitet, daher weiß ich, wie wichtig ein Bühnenbild ist. Genau das habe ich bei Battel Hall getan – ich habe Szenen entworfen«, sagt Plowden. Die Ausstattung des Bühnenbilds ist ein wahrlich mutiger Mix: Art déco und Chinoiserien, erhaltene Küchenfliesen aus den 1930er-Jahren, ein moderner Esstisch, ein Altarbild aus dem 15. Jahrhundert. Der Mut zahlt sich aus. 

Doch nicht nur 700 Jahre altes Gemäuer weckt die Träume von klug inszeniertem Komfort, denn es gibt auch Neuzugänge unter den Country Houses. Diese sind zwar etwas kleiner, doch spielen sie mit denselben historischen Elementen. Die dürfen auch von außerhalb der Insel stammen. Das Haus ­Nithurst Farm in Sussex, das sich der Londoner Architekt Adam Richards für sich und seine fünfköpfige Familie entwarf, erinnert mit seinen massiven Ziegelwänden und runden Fensterbögen eher an eine antike römische Villa. Durchaus mit Absicht, doch auch lokale bäuerliche Architektur diente als Inspiration.

Bereichert wird diese Architektur im Inneren mit ganz anderen Elementen wie einer gemütlichen Sitznische, zu der der Architekt beim Besuch eines Pubs inspiriert wurde, und der legendäre Film »Stalker« von Andrej Tarkowski. Dessen Grundthema einer Reise zum Innersten nahm Richards zum Anlass, einen besonderen Raum im Herzen seines Hauses zu entwerfen. »Ich bin besessen von der Idee eines Zimmers, in dem die tiefsten Wünsche wahr werden. Also habe ich versucht, für meine Familie den schönsten Raum zu entwerfen, den ich entwerfen kann.« Nithurst Farm wurde so das Gegenstück zu »Downton Abbey«. Nicht der Film zum Haus, sondern das Haus zum Film. Abspann.

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