Höhlenarchitektur: Moderne Häuser unter der Erde
Wer sagt, dass Architektur immer nur in den Himmel wachsen muss? Diese Wohnhäuser und kunstvollen Räume wurden in die Erde hineingegraben. Die unterirdische Bauweise bietet vor allem klimatische Vorteile, denn Erde ist eine perfekte Wärmedämmung und Gratiskühlung.
14.06.2022 - By Wojciech Czaja
Ein Grundstück mit 6.000 Quadratmeter Land, felsig und trocken, Gras und Buschwerk überziehen das hügelige Gelände, doch dann, von oben kaum sichtbar, entdeckt man in der Nähe des Strands Agios Sostis diesen unterirdischen, ins Erdreich hineingebuddelten Bau. »Als ich im Sommer 2019 das erste Mal vor Ort war, um das Grundstück zu besichtigen und mir ein Bild von der Umgebung zu machen, war der pfeifende Wind so stark, dass man sein eigenes Wort kaum verstanden hat«, erzählt die Athener Architektin Iliana Kerestetzi, Gründerin von Mold Architects. »Ich habe meinen Bauherren versprochen, dass ich mir überlegen würde, wie wir das Problem lösen können.«
Kerestetzi entschied sich, das gesamte rund 400 Quadratmeter große Wohnhaus komplett einzugraben und geländebündig zu versetzen. Auf den insgesamt vier Etagen, die sich so flach und ästhetisch ins Erdreich ducken, dass die Wuchtigkeit des Volumens kaum auffällt, befinden sich heute riesige, zum Teil bis zu 6,5 Meter hohe Wohnbereiche, Schlafzimmer, diverse Gästezimmer, mehrere Atrien und Terrassen sowie ein in Beton gefasster Swimmingpool. Dank den Einschnitten in die Topografie und den hohen Böschungsmauern sind die Freiräume fast windstill. Ein willkommener Nebeneffekt der ungewöhnlichen Bauweise ist das Raumklima.
Natürlich klimatisiert
»Obwohl unsere Berechnungen ergeben haben, dass dieses Haus ohne Klimaanlage auskommt, wollten die Bauherren auf Nummer sicher gehen und haben sich entschieden, ein Back-up-System einzubauen. Heute, nach zwei Sommersaisonen, wissen wir, dass die Klimaanlage erst ein paarmal in Betrieb war. Das Haus kühlt sich quasi von selbst.« Zum einen dient das umgebende Erdreich als perfekte Wärmedämmung und wertvolle speicherfähige Masse, um die Temperatur-schwankungen zwischen Tag und Nacht, zwischen Sommer und Winter auszugleichen. Zum anderen kann das gesamte Haus dank den großen frontalen Glasfassaden und den ausgegrabenen Atrien quergelüftet werden. Sogar im griechischen Hochsommer ist die Innenraumtemperatur angenehm kühl.
Tiefbau en Gros
»So zu bauen, ist eben eine der nachhaltigsten und klimacleversten Maßnahmen, die man sich nur vorstellen kann«, sagt die 40-jährige Architektin, die für die Errichtung des Ncaved House für anderthalb Jahre sogar von Athen nach Serifos gezogen ist. Begünstigt wird die unterirdische Bauweise durch ein Gesetz, das in Griechenland seit 2015 in Kraft ist: Wer in die Erde hineinbaut, anstatt die Landschaft zu beeinträchtigen, bekommt nicht nur eine Förderung, sondern kann die in der Flächenwidmung erlaubte Nutzfläche um 50 Prozent übersteigen. Hotelbetreiber:innen und gewerbliche Bauträger:innen können um 20 -Prozent mehr Fläche errichten.
Auch wenn das Baugesetz in Griechenland einzigartig ist, finden sich unterirdische
Projekte mittlerweile überall auf der Welt. »In klimatischer Hinsicht gibt es tatsächlich nichts Besseres«, bestätigt auch der Wiener Architekt Johannes Baar-Baarenfels, der bereits einige Hanghäuser gebaut hat und aktuell ein unterirdisches Haus in Berkshire, westlich von London, plant. »So viel Erdreich auszuheben und robuste Kellerwände zu schaffen, die das Haus gegen Hang- und Grundwasser schützen, ist zwar ein großer technischer Aufwand, der auch entsprechend teuer ist – aber dafür spart man sich die Fassade, die je nach Bauweise ebenfalls
ziemlich ins Geld gehen kann.«
Im Zeitalter von Erderwärmung, Urban Heat Islands, Baulandknappheit, steigenden Grundstückskosten und immer strengeren Bebauungsbestimmungen wird das unterirdische Bauen und Wohnen eine zunehmend attraktive Alternative. »Mit Kellerwohnen hat das schon lange nichts mehr zu tun«, sagt Baar-Baarenfels. »Es ist eine Wohnform mit Erdverbundenheit und oft großartigen Blicken in die Landschaft und in den Himmel.«