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Mehr Holz, mehr Ökologie, mehr Farbe – und vieles mehr. Die Welt ist im Wandel und wird mal südlicher, mal nordischer und vor allem besser und bunter. Wir haben die fünf wichtigsten Architekturtrends der kommenden Jahre aufgespürt.

16.02.2022 - By Maik Novotny

Schnittig, leicht, elegant, kantig. Auf den ersten Blick könnte das 75-Meter-Hochhaus im nordschwedischen Städtchen Skellefteå aus Stahl und Glas sein. Ist es aber nicht, denn der Komplex aus 20-geschoßigem Hotel und Kulturzentrum ist durch und durch hölzern. Genau gesagt, aus laminiertem Brettschichtholz, das dank neuester Forschung von ­Ingenieuren, Holzbauern und Architekten ungeahnte Höhen ermöglicht. »Der Entwurf ist eine Hommage an die reiche Holzbau­tradition dieser Region, die wir gemeinsam ­weiterentwickeln«, sagt Architekt Oskar ­Norelius vom Büro White Arkitekter. Die souveräne Leichtigkeit, mit der dies gelang, zeugt von Erfindergeist und Expertise und beweist, dass der vermeintlich ländlich-rustikale Baustoff Holz ein enormes Potenzial birgt.

MATERIAL ZUR KLIMAWENDE

Nicht nur in Schweden, auch in anderen Ländern mit Holzbautradition ist der Boom längst angekommen. Im Bregenzerwald läuft die Produktion seit Jahren auf Hochtouren, weil nicht nur heimische Kunden, sondern auch halb Deutschland auf das Fachwissen der Region zurückgreifen will. In Wien, wo man bislang nur auf Ziegel, Beton, Putz und Stuck setzte, ist das Holzhochhaus HoHo zum Leuchtturm der Seestadt Aspern ­geworden. Hilfreich für den Trend ist, dass der nachwachsende Baustoff aus regionaler Produktion mit seiner hervorragenden ­CO2-Bilanz das ideale Material für die ­Klimawende darstellt. Und von Tokio bis ­Vancouver will jede Stadt, die etwas auf sich hält, das nächste höchste Holzhaus bauen.

Es ist allerdings nicht der einzige Trend, der die Zutaten Nachhaltigkeit, Technologie und Design ganz neu mischt. Eine der wesentlichsten Neuerungen in der Architektur ist der Move vom Neubau zum Umbau.

Re-Use, Recycling, Retrofitting: Es gibt viele Namen dafür, doch der Gedanke ist derselbe. Ressourcen wie Beton, Sand und Stahl sind nicht nur rapide teurer geworden, sondern auch in Erzeugung und Transport große Energieverschwender. Städte wie München koppeln bereits die Planung von Neubau­vierteln an den Grad der Wiederverwendung von Baustoffen und Architekten wie baubüro in situ in der Schweiz, Rotor Deconstruction in Belgien oder das Baukarussell in Wien sind heute Designer und Altwarenhändler zugleich, zerlegen Fassaden und Interieurs und integrieren sie mit frischer Collage-­Ästhetik in Bauten an anderer Stelle.

MUT ZUM SPIEL

Ebenso unbekümmert geht ein anderer Trend vor sich, der sich vor allem im nebelgrauen England breitmacht: die Wiederentdeckung der bunten Postmoderne. Deren leuchtende Farben blühen vorerst noch im Kleinen: in erweiterten Reihenhäusern und in den Interieurs umgebauter Wohnungen. Das 2013 von Catrina Stewart und Hugh McEwen gegründete Office S&M tauchte die Räume eines Nordlondoner Reihenhauses in Mintgrün, Altrosa und Petrolblau, sogar die Lichtschalter sind pink und gelb. »Wir benutzen Farbe bei allen unseren Projekten sehr intensiv«, sagt Catrina Stewart. »Außerdem darf man nicht vergessen, dass Buntheit in der bildgetriebenen Instagram-Ära auch einfach gutes Marketing ist«, fügt Matt Pattenden vom ebenso farbtopf­freudigen Kollektiv alma-nac hinzu.

Doch Farbe ist nicht alles, vielmehr geht es darum, sich aus einer breiteren kulturellen Palette zu bedienen, als sich in der minimalistischen Dezenz von Grauschattierungen durchs Architektenleben zu langweilen.

Wild gemusterte Küchenschränke, etwas Ruinenromantik, eine Pop-Art-Bergkulisse, Anregungen aus Disneyland und vom Film »Trainspotting«: All das vermischte Mat ­Barnes vom Büro CAN im gartenseitigen Anbau für seine junge Familie – und ­irgendwie passt das alles genau zusammen und macht großen Spaß. »Mich reizt es, möglichst unterschiedliche Elemente zu kombinieren«, sagt Barnes. Der britische Architekturtheoretiker Owen Hopkins erfand Anfang 2021 einen Namen für diese Bewegung: Multiform. Ob er sich durchsetzt, ­werden die 20er-Jahre zeigen, doch wie auch immer man den Trend nennt: Etwas mehr Mut zum Spielerischen kann uns nur guttun.

BAYERISCHES SGRAFFITO

Den beweist auch, mit ganz deutsch-stoischem Pokerface, das Münchner Büro Hild und K. Ein Neubau an denkbar prominenter Stelle zwischen Rathaus und Frauenkirche wurde zum absoluten Hingucker, denn seine Fassade von oben bis unten in Rot und Weiß orna­mentiert. Und, nein, das hat nichts mit dem ­FC-Bayern-Fanshop zu tun, der die unteren Geschoße besetzt. Sondern mit einer Kombination von Handwerk, Geschichtsbewusstsein und etwas Frechheit. Denn die Fassade des kriegszerstörten historistischen Altbaus wurde per Schablone auf den Neubau projiziert und dann von Hand penibel aus dem dreischich­tigen Putz herausgekratzt. Sgraffito nennt es die Kunstgeschichte. »Eine gewisse Freude und Provokation sollte schon dabei sein«, sagt

Matthias Haber, Partner bei Hild und K, »gerade weil der Umgang mit dem Historismus heutzutage so verkrampft ist und ein kreativer Umgang mit der Vergangenheit fehlt.« Mehr Ornament: ein Trend, dem auch durch ­brandneue Techniken wie 3D-Druck freie Bahn bereitet wird.

Vom kleinsten Detail zurück zum globalen Maßstab. Hier wird der lange prophezeite Trend des afrikanischen Jahrzehnts sich nicht länger zurückhalten lassen. Die vitale Kunstszene machte es vor, die Architektur zieht nach. Vor allem Westafrika, wo die Küstenstädte zwischen Nigeria und Ghana zu einer hochproduktiven Region zusammenwachsen, wird hier den Takt vorgeben. Man darf schon ­gespannt sein, wenn 2023 die Architektur­biennale Venedig unter der Leitung der ­ghanaisch-schottischen Architektin Lesley Lokko, der ersten schwarzen Biennale-­Kuratorin, eröffnet.

Sara Kulturhus in Skellefteå (Schweden)

»Plyscraper« statt Skyscraper: Das neue Kulturhaus inklusive 20-stöckigem Hotel ist der ganze Stolz von Skellefteå, denn es wurde komplett aus Holz errichtet. 100 Prozent der Energie der ganzen Stadt sind aus erneuerbaren Quellen. Dank des Baustoffs Holz konnten hier 9.000 Tonnen CO2 gebunden werden und durch die Vorfertigung ein Jahr Bauzeit eingespart werden. Ein nordischer Leuchtturm des klimabewussten Bauens.

baubüro in situ (Schweiz)

Ein Pionierland beim Recycling ist ausgerechnet die ordentliche Schweiz. Das baubüro in situ tut das schon seit 1995. Beim Umbau des Lysbüchel-Areals in Basel etwa wurden verschiedene Fenster von anderen Bauten zu einer charmanten Collage kombiniert, mit erbsengrünen Fassadenpaneelen als einheit­licher Klammer. Woanders wurden ganze Badezimmer und Stiegenhäuser umgetopft. Alles natürlich in bester Schweizer Präzision.

Floating Music Hub in Cabo Verde (Afrika)

Den Anfang machte eine schwimmende Schule: die Makoko Floating School in der Lagune von Lagos, entworfen von NLÉ Works. Seitdem ging das Makoko Floating System in Serie, 2021 ging der Floating Music Hub in der Bucht von Mindelo auf den Kapverdischen Inseln erstmals im Atlantik vor Anker, mit Konzerthalle, Musik­studio und Bar. Ein Symbol für die kluge Einfachheit und Adaptierbarkeit afrikanischer Architektur

Mo-tel House in London (UK)

Pink, Mintgrün, Petrolblau, Kanariengelb, Tomatenrot: Beim Umbau einer Wohnung in Islington wurden die tristen, feuchten Räume zu einem fröhlichen Paradiesvogel. »Nichts Langweiliges« war der Auftrag der Bauherren, und die Architekten von Office S&M griffen nicht nur tief in den Farbtopf, sondern entwarfen auch jedes Möbel bis ins Detail selbst. Postmodern, funktional und voller Lebensfreude.

Sgraffito-Haus in München (Deutschland)

Soll das ein Witz sein? Das fragten sich viele Passanten bei diesem Haus in der Weinstraße in Münchens Altstadt. Die Antwort: Nein, hier wurde seriös, aber mit Augen­zwinkern Geschichte aufgearbeitet. Der Fassadenplan des Vorgängerbaus von 1872 wurde auf den Neubau projiziert und seine Linien in drei Schichten Putz (Anthrazit, Ziegelrot und Weiß) hineingekratzt. Handwerk plus digitale Präzision ist gleich Renaissance des Ornaments.

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Erschienen in:

Falstaff LIVING Nr. 01/2022

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