Einblick in die spannendsten Grätzelentwicklungen
Ein urbanes Quartier ist mehr als nur Wohnen und auch mehr als nur eine hübsche Meile für die Latte-Macchiato-Urbanität, wie der internationale Stadtforscher Dieter Läpple erklärt. Ein Einblick in die spannendsten Grätzelentwicklungen in Wien, Linz und Graz.
06.12.2022 - By Wojciech Czaja
Mit einigen Jahren Verspätung lassen sich in der Wiener Seestadt Aspern nach den Menschen nun auch die Götter nieder. Direkt an der Ecke zum Ostrompark entsteht in den kommenden Jahren ein sogenannter »Campus der Religionen«, der auf insgesamt 10.000 Quadratmetern acht Glaubensgemeinschaften beheimaten wird. Dazu zählen die Christen mit der Römisch-Katholischen Kirche, der Evangelischen Kirche, der Apostolischen Kirche und den Griechisch- Orthodoxen sowie der Islam, die Israelitische Kultusgemeinde, die Sikh und die Buddhisten. Ebenfalls Teil des Campus ist die Kirchlich-Pädagogische Hochschule (KPH) für rund 3000 Studierende. Die Idee, in der Seestadt ein sakrales, interreligiöses Zentrum anzusiedeln, geht auf den Masterplan von Johannes Tovatt zurück. Schon damals meinte der Stockholmer Architekt: »Ein lebendiges Stadtquartier besteht aus mehr als nur Wohnen, es umfasst ganz alltägliche Dinge wie etwa Supermarkt, Einzelhandel, Gastronomie, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsinfrastruktur und Dienstleistungen für den täglichen Bedarf, aber auch kulturelle, sportliche und religiöse Einrichtungen, wo Menschen miteinander ins Gespräch kommen können. Es sind vor allem diese Besonderheiten, die ein Wohnviertel erst richtig lebenswert machen.«
Doch wie bringt man so viele unterschiedliche Glaubensgemeinschaften und Weltanschauungen unter ein Dach? »Manche Konfessionen verlangen nach ganz bestimmten Himmelsrichtungen, andere nach einer Verbindung mit der Erde, wiederum andere nach strengen Reinigungsritualen vor der Zusammenkunft zum Gebet«, erklärt die Wiener Architektin Marianne Durig, die für die Planung des Campus verantwortlich zeichnet. »Wir haben uns entschieden, als symbolischen Brückenschlag zwischen den Weltreligionen einen zentralen Platz zu schaffen – mit begrünten Flächen und einer luftig-leichten Pergola aus Aluminium. Das Resultat ist ein kleines Stück Stadt in der Stadt.«
»Wir müssen wieder lernen, dass Stadt die Summe vieler verschiedener Funktionen und das Leben in einem Quartier immer auch eine gewisse Zumutung ist.« – DIETER LÄPPLE, Professor für Internationale Stadtforschung an der HafenCity-Universität Hamburg
Wirft man einen Blick auf die aktuellen Entwicklungsprojekte der gewerblichen Investor:innen und gemeinnützigen Wohnbauträger, so wird man feststellen, dass das Denken in Einzelbauwerken bis zur Grundstücksgrenze – und keinen Meter darüber hinaus – ein Auslaufmodell ist. Denn dieses führt zu monofunktionalen Quartieren, zu reinen Schlafstädten, die sich meist an eine homogene Bevölkerungsschicht richten aus diesem Grund à la longue das Risiko einer sozialen Ghettoisierung bergen. »Wir haben Stadtquartiere lange Zeit unter dem Blickwinkel betrachtet, ob sie hübsch genug zum Wohnen sind und ausreichend Spaß machen – und haben dabei ganz vergessen, dass es nicht um die Latte-Macchiato- Urbanität geht«, sagt Dieter Läpple, Professor für Internationale Stadtforschung an der HafenCity- Universität Hamburg, im Gespräch mit Falstaff Residences. »Wir müssen wieder eine lebendige, breiter gefächerte Ökonomie zurückbringen. Und wir müssen wieder lernen, dass Stadt die Summe vieler verschiedener Funktionen und das Leben in einem Quartier immer auch eine gewisse Zumutung ist.«
Eine solche positive Zumutung ist auch die Revitalisierung ehemaliger Industriestandorte wie etwa der Tabakfabrik Linz oder der Reininghaus- Gründe in Graz. Im Gegensatz zu früher werden hier nicht nur Wohn- und Bürobauten von der Stange errichtet, sondern unterschiedliche Stadtplayer zum Dialog gezwungen: Da wird gewohnt, dort gibt es Büros, ums Eck befinden sich Shops, Werkstätten, Maker-Spaces, eine Schule, eine Universität, ein Forschungsinstitut und manchmal sogar eine Tischlerei und eine Buchdruckerei. In der Tabakfabrik Linz gibt es seit 2013 eine Person, die sich um nichts anderes kümmert als um die Zwischennutzung, um einen ausgewogenen Mieter:innen- und Bebauungsmix und um die begleitende Choreografie, damitdie unterschiedlichen Protagonist:innen in der ehemaligen »Tschickbude« gut miteinander auskommen.
»Quartierentwicklung ist ein aufregender, aber auch langwieriger und mühsamer Prozess, bei dem man an unendlich vielen kleinen Schrauben drehen muss, um die richtige Balance zu finden«, sagt Chris Müller, seines Zeichens Künstler und Immobilien-Entrepreneur und nunmehriger Entwicklungsdirektor der Tabakfabrik Linz. Aktuell ist in der Nordwestbahnhalle – noch bis Jahresende – die Internationale Bauausstellung IBA Wien zu sehen, die unter dem Motto »Wie wohnen wir morgen?« mit Architekt:innen und Stadtplaner:innen Spielregeln und Regulative für künftige Wohnquartiere erarbeitet hat. »Ein gutes Vorbild für urbane Zusammenarbeit «, sagt IBA-Direktor Kurt Hofstetter, der am Nachtkästchen gerade Merlin Sheldrakes Buch »Verwobenes Leben« über das Verhalten von Pilzen liegen hat, »sind Pilze, Schimmel und Mycele. Das sind hochintelligente Systeme, die sich untereinander austauschen und einander mit Nährstoffen versorgen. Wer gerade hat, der gibt. Wer gerade braucht, der nimmt. Wir alle, die wir Stadt bauen, können von Pilzen noch viel lernen.«
Erschienen im Falstaff LIVING Residences 02/2022