Digitales Detox: Häuser auf digitaler Diät
Unsere Homes werden immer smarter, unsere Wohnungen dank ausgeklügelten Haustechniksystemen immer intelligenter. Doch seit einigen Jahren gibt es einen Gegentrend zu beobachten: Digital Detox, »Back to the roots«, g’scheit bauen wie zu Großvaters Zeiten.
06.06.2023 - By Wojciech Czaja
Eine Mischung aus Atelier und Oase, mit sanft belichteten Schreibtischen, sichtbar belassenen Betonwänden in unterschiedlichen Farbnuancen und allerhand Büschen und Bäumen, die sich dramatisch über die Arbeits- und Ruhebe-reiche der hier angestellt Tätigen beugen. Im vietnamesischen Architekturbüro Kientruc O, das die beiden Architekt:innen Dam Vu und Anni Le für sich und ihr Mitarbeiter:innenteam auf einer nur 200 Quadratmeter großen Parzelle in Ho-Chi-Minh-Stadt errichtet haben, gehen Innen- und -Außenraum scheinbar nahtlos ineinander über. Über riesige Glastüren, die zur Seite geschoben werden können, verschmelzen Büro und Terrasse zu einer grünen, gemütlichen Symbiose. Doch das offene Raumkonzept, das zu etwa 50 Prozent aus Raum und zu 50 Prozent aus offenen Atrien besteht, ist nicht nur ein gestalterischer, atmosphärischer Kniff, sondern hat in allererster Linie bauphysikalische Gründe. »Mit diesem ungewöhnlichen Grundriss«, sagen Dam Vu und Anni Le, »ist es uns gelungen, voll und ganz auf passive Kühlung zu setzen und auf diese Weise auf eine Klimaanlage sowie auf andere CO2-intensive Kühlmethoden zu verzichten. Dadurch brauchen wir auch keine aufwendigen digitalen Haustechniksysteme im gesamten Gebäude.«
Headerbild: Kientruc O, Ho-Chi-Minh-Stadt (VNM) Wie temperiert man einen tropischen Raum ganz ohne Klimaanlage? Es geht! Das vietnamesische Architekturbüro Kientruc O orientiert sich in seinem neu errichteten Studio an klassischen Bauten der Moderne und arbeitet mit Atrien, Verschattung, Wärmespeicherung, Verdunstungskälte und Querdurchlüftung. kientruco.com
Die Strategie ist keineswegs neu, sondern beruht auf einem ganz klassischen Schema tropischer Bauten der Moderne, die die sogenannte passive Kühlung bis zur Perfektion weiterentwickelt haben. Diese basiert auf den drei Säulen Hitzevermeidung, Wärmemodulation und Ableitung überschüssiger Energien: Erstens werden die Fensterflächen reduziert und verschattet. Im Fall des Kientruc-O-Büros erfolgt die Belichtung ausschließlich über die Atrien sowie über ein sich selbst verschattendes Lamellendach. Zweitens wird der Wärmeeintrag moduliert und clever gemanagt. Die massiven, speicherfähigen Betonwände nehmen die Wärme auf, um sie erst in der Nacht wieder abzugeben. Zudem sorgen die Pflanzen für Verschattung und Verdunstung, was das gefühlte Mikroklima um ein paar Grad reduziert. Und drittens wird die warme, abgestandene Luft auf schnellstmöglichem Weg aus dem Gebäude befördert – in diesem Fall über Querdurchlüftung und Hinausströmen durch die Atrien. Während unsere Häuser immer smarter, immer cleverer, immer intelligenter werden, lassen wir meist außer Acht, dass diese digitale Intelligenz hinter den Kulissen fehleranfällig ist und zudem eine Menge an Energie benötigt. Als Gegentrend zu diesen zunehmend ausgeklügelten, ausgetüftelten, bis zum letzten Kilowatt ausgereizten Gebäudemaschinen gibt es daher immer mehr »Back to the roots«-Projekte, die dem Digitalen und den komplexen Kühlungs-, Lüftungs- und Beheizungsanlagen den Rücken kehren und beweisen, dass es auch anders geht. Bauen so wie früher zu Großvaters Zeiten. Ohne das ganze technische Brimborium. Digital Detox für unsere Häuser. »Wir haben vor einigen Jahren untersucht und uns ausgerechnet, wie viel Betriebsenergie benötigt wird, damit selbst in nachhaltig geplanten Bauwerken, die meist als Vorreiter gelten und mit grünen Zertifikaten ausgezeichnet werden, die mechanischen Lüftungsanlagen und an sich ökologischen, CO2-freien Wärmepumpen überhaupt erst einmal in die Gänge kommen«, sagt der Vorarlberger Architekt Dietmar Eberle, CEO von Baumschlager Eberle. »Und das Resultat war erschreckend! Also haben wir uns dann die Frage gestellt: Geht das auch anders? Kommen wir auch ohne Betriebsenergie aus? Gibt es eine Möglichkeit, die ganze sogenannte intelligente Haustechnik einzusparen und uns stattdessen auf eine Bautradition zurückzubesinnen, die auch ohne den ganzen Wahnsinn auskommt?«
Die Antwort lautet: Ja. Die dazugehörigen Projekte hören auf den Namen »2226«, was sich auf den Schwankungsbereich der Innenraumtemperatur zwischen 22 und 26 Grad Celsius bezieht. »Es gibt es keine Heizung, keine Kühlung und auch keine zusätzliche mechanische Belüftung«, sagt Eberle. »Stattdessen arbeiten wir in der kalten Jahreszeit mit dem, was da ist – mit der Abwärme des Menschen, aber auch mit der Abwärme unserer technischen Geräte wie etwa Computer, Fernseher, Kühlschrank, Geschirrspüler und Waschmaschine. Und die sommerliche Kühlung schaffen wir mit gezielter, kontrollierter Querlüftung.« In der Zwischenzeit hat Baumschlager Eberle rund 45 Projekte nach dem »2226«-Prinzip in Entwicklung, unter anderem in Wien, Berlin, Hamburg, Zürich, Paris, Lyon und in Krakau. 45 Projekte, die beweisen, dass eine Detox-Kur nicht nur den Menschen guttut, sondern auch den Häusern selbst – und letztendlich auch Mutter Natur.
DIESER ARTIKEL ERSCHIEN IM RESIDENCES 2023/01