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Die einflussreichsten Modeschöpfer:innen der letzten Jahre

Wer die Sprache der Mode versteht, erfährt aus ihr mehr als aus den Nachrichten. Sie spiegelt den gesellschaftlichen Wandel einer jeden Dekade wider. Wir haben für Sie die jüngste Modegeschichte unter die Lupe genommen.

30.03.2023 - By Sebastian Späth

Eigentlich sei Mode ja Rechnen, behauptet Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Stück »Das Licht im Kasten«. »Und zwar mit allem. Mit allem muss man rechnen.« Wenig fasst das vergangene Modejahrzehnt so treffend zusammen wie jene Zeilen der Dramatikerin. Dabei sind sie bereits 2016 erschienen, als wir uns noch mittendrin befanden in den meisten Umwälzungen – wenn sie nicht sogar noch unvorhersehbar waren. Angefangen bei den ökologischen Herausforderungen durch den Klimawandel, über die Auflösung traditioneller Geschlechterrollen, globale Einschnitte wie Corona nicht zu vergessen. Selten zuvor dürfte die Mode sich innerhalb einer Dekade in einem so umfänglichen Wandeln befunden haben.

Der Blick zurück auf die vergangenen zehn Jahre Mode und ihre prägendsten Figuren, die  wir Ihnen hier vorstellen, macht deutlich: Kleidung ist mehr als ein Konsumobjekt – sie ist Ausdruck von Identität, sozialer Zugehörigkeit und Kultur. Ein Spiegel der Gesellschaft. Vor allen Dingen überrascht sie uns stets aufs Neue. Oder hätten Sie erwartet, dass ein männliches Sex-symbol im fortgeschrittenen Alter zum Vertreter einer Genderless-Fashion-Bewegung avanciert, die Kleider nicht mehr nur einem Geschlecht zuordnet? Gemeint ist Brad Pitt.

Bei einer Filmpremiere im vergangenen Sommer zeigte der Hollywoodstar sich in einem rostfarbenen Leinenrock, der knapp an den Knien endete. Allein ist er mit dieser Kleiderwahl nicht. Als Popsänger Harry Styles 2020 als erster männlicher Cover-Star die amerikanische Vogue zierte, wählte er als Outfit ein Kleid.

Natürlich ging die Initiative vom Laufsteg aus. Von Designern wie Alessandro Michele für Gucci, Nicolas Ghesquière für Louis Vuitton oder Jean Paul Gaultier, der über Jahrzehnte Männerröcke als Teile seiner Kollektion präsentierte. Heute sprechen Mode-konzerne damit vor allem die junge Konsumentenschaft an, unter der eine viel freiere Vorstellung von Geschlecht vorherrscht als bei vorherigen Generationen. Studien zufolge identifizieren sich über 30 Prozent der Gen-Z als nicht heterosexuell.

Nicht weniger interessant ist die Erklärung der Modetheorie: Die Übertragung männlicher Kleidung in weibliche, die über Dekaden die Arbeit von Designer:innen bestimmte, sei mit diesem Modejahrzehnt abgeschlossen, sodass Innovation sich nun auf umgekehrtem Weg vollziehe: als Inszenierung des Mannes in Frauenkleidung. Bei einer Mode-Rückschau dürfen allerdings auch düstere Ereignisse nicht ausgelassen werden. Der Einsturz einer Textilfabrik in Bangladesch vor ziemlich genau zehn Jahren war so eines: mehr als tausend Menschen starben, über 2000 wurden verletzt. Es war der bislang größte Unfall in der Textilindustrie.

Glücklicherweise hat sich bei der Produktion und beim Konsumverhalten seither einiges zum Besseren gewandt, wenngleich sich jeder selbst kritisch befragen muss, ob dafür die schlechten Arbeitsbedingungen in der Dritten Welt ausschlaggebend sind oder eher die bereits spürbaren Auswirkungen der Erderwärmung. Weniger erfreulich macht das den Bewusstseinswandel jedoch nicht. Er zeigt sich etwa in der steigenden Zahl von Leihplattformen für Mode wie Rent the Runway, WeDress oder der Kleiderei, denen bis 2026 ein Umsatzwachstum auf zusammen 7,5 Milliarden Dollar vorausgesagt wird.

Auch Upcycling, die Wiederverwertung getragener Kleidungsstücke, hat sich spätestens seit der letztjährigen Met-Gala auf dem roten Teppich etabliert. Schauspielerin Emma Stone etwa trug ein Louis-Vuitton-Kleid auf, in dem sie drei Jahre zuvor auf ihrer Hochzeit feierte, Model Emily Ratajkowski gar ein Versace-Kleid von 1992. Nicht zu unterschlagen Kim Kardashian im original Glitzer-Dress von Marilyn Monroe, in dem die Schauspielikone John F. Kennedy 1962 ein Geburtstagsständchen sang. Nie zuvor war es so angesagt, alte Klamotten zu tragen, auch wenn die Mode damit ihre eigenes Grundprinzip unterläuft: Immer mehr und immer schneller zu produzieren. Die Zukunftsaussichten könnten schlechter sein.

Pierpaolo Piccioli - Valentino

Über den inzwischen 90-jährigen Valentino Garavani hieß es immer, er sei als Modeschöpfer unersetzlich für sein Label. Auf die Folgen seines Rücktritts angesprochen, antwortete er einmal: »Nach mir die Sintflut.« Womit er nicht ganz falsch lag. 2007, nach dem Ausscheiden Valentinos aus seinem Unternehmen, scheiterte der neue Eigentümer, die Königsfamilie Katars, fast an der Neuausrichtung des Modehauses: Valentinos direkte Nachfolgerin Alessandra Facchinetti hielt sich nicht einmal ein Jahr an der Spitze. Die Rettung fand man in zwei »Hausgewächsen«: Die Accessoire-Designer Maria Grazia Chiuri und Pierpaolo Piccioli wurden Chefdesigner. Es begann eine Erfolgsgeschichte. 2015 steigerten beide den Jahresgewinn auf 1 Milliarde Dollar. Als
Chiuri 2016 zu Dior ging, blieb der unprätentiöse Piccioli allein, sein Gespür aber verließ ihn nicht. Das Label hat der 56-Jährige dem Zeitgeist angepasst und auf Diversität getrimmt. Von der etwas überbordenden Opulenz hat er sich ebenso verabschiedet wie vom legendären Valentino-Rot, das er gegen ein selbstentworfenes Pink eintauschte. 2022 wurde er mit dem British Design Award zum Designer des Jahres ausgezeichnet.

Daniel Roseberry - Schiapparelli

Die Wiederbelebung Schiaparellis gehört zu den überraschendsten Wendungen der jüngsten Modegeschichte. Der 2019 zum Chefdesigner berufene Texaner Daniel Roseberry knüpft mit seinen expressiven Entwürfen an die dramatischen Looks von Markengründerin Elsa Schiaparelli an: Bei der Präsentation seiner Haute-Couture-Show 2023 ließ er Models täuschend echte Tierköpfe tragen und so die Grenzen zwischen Realem und Irrealem verschwimmen - wie einst Schiaparelli, die in den 30-Jahren mit exzentrischen Kreationen Modegeschichte schrieb als eine Art Punk ihrer Zeit. Von Kim Kardashian über Topmodel Bella Hadid setzt Hollywoods weibliche Elite heute auf Schiaperelli und die Entwürfe des 38-jährigen Roseberry. Als Popstar Lady Gaga bei der Amtseinführung von Präsident Joe Biden sang, tat sie dies in einer Robe von Schiaparelli.

Demna Gvasalia - Balenciaga

Als Kind floh er vor dem russisch-georgischen Krieg. Mit acht Jahren wusste er, dass er schwul ist und beriet seine Großmütter bei der Kleiderwahl. Heute ist der 42-jährige Balenciaga-Chefdesigner, der sich nur mit seinem Vornamen Demna anreden lässt, der Vordenker der Modebranche. Nachdem er das 1937 gegründete Modehaus vor acht Jahren übernahm, transformierte er es zum angesagtesten unserer Zeit. Schon mit seinem ersten Label Vetements sorgte Demna schnell für Aufsehen: Mit zerschnittenen, wiederzusammengeflickten Jeans für mehrere tausend Euro und T-Shirts mit »DHL«-Logo parodierte er die eigene Branche. Nachdem Ende vergangenen Jahres eine Werbeaktion gehörig in die Hose ging und Demna der Verharmlosung von Kinderpornografie beschuldigt wurde, hielt er seine erste Show im März in Paris nach dem großen Skandal auffallend schlicht.

Nicolas Ghesquière - Louis Vuitton

Nicolas Ghesquière war der erste Stardesigner des neuen Jahrtausends. 1997, mit nur 25 Jahren und nahezu unbekannt, wurde er Kreativchef von Balenciaga und verhalf der Marke in rasantem Tempo mit modernen Interpretationen von Cristóbal Balenciagas ursprünglichen Entwürfen zur Rückkehr in den Modeolymp. Dem historischen Erbe des Couture-Hauses stellte er seine Begeisterung für Science-Fiction gegenüber. 2013 wechselte Ghesquière als Kreativchef zu Luis Vuitton, wo er seither die Linie des Modehauses vorgibt und dessen Ansehen wiederherstellte. Ghesquières scharfe Schnitte und seine Unerschrockenheit, Stile aus unterschiedlichsten Jahrzehnten bunt zu mischen, hat Luis Vuitton zurück an die Spitze der Branche befördert. Bewunderer des 51-jährige Franzosen sagen, er schaffe nicht einfach Mode, sondern ein Gefühl, das
zur Form wird.

Maria Grazia Chiuri

Eine Reporterin der britischen Zeitung »The Guardian« urteilte einmal über Maria Grazia Chiuiris Büro, dass es nicht wie das einer Modeschöpferin aussehe, sondern wie von einer Forscherin. So vollgestopft sei es mit allerlei theoretischen Bänden. Seit 2016 ist die 59-jährige Römerin an der Spitze des französischen Modehauses – als erste Frau überhaupt. In Chiuris sechs Jahren bei Dior ging es genauso stark um Frauenrechte wie um Mode: »Wir alle sollten Feministinnen sein!« stand 2016 auf den T-Shirts aus ihrer Debütkollektion. 2020 präsentierte sie ihre Haute-Couture-Show innerhalb eines Gehäuses das von der feministische Künstlerin Judy Chicago entworfen wurde und einem weiblichen Geburtkanal nachempfunden war. Als Chiuri zu Dior kam, erwartete das Publikum einen neuen Look, einen neuen Saum, neue Farben. Es bekam eine neue Weltanschauung.

Alessandro Michele - Gucci

Alessandro Michele kam 2015 an die kreative Spitze von Gucci und hat die Marke zum Goldesel des Kering-Konzerns gemacht. Seine Mode? Märchenhaft und eklektizistisch. Männer packte er konsequent in Frauenkleidung und Netzhemden und schwelgte dabei hemmungslos in einer 70er-Jahre-Ästhetik. Unter Micheles Führung hatte sich der Umsatz des Hauses mehr als verdoppelt. 2018 lag er bei 8,29 Milliarden Euro. Doch zuletzt gab es interne Unstimmigkeiten: Michele, der ursprünglich Kostümbildner werden wollte, sträubte sich nach Corona dagegen, zu dem branchenüblichen hochfrequenten Output von vier Hauptkollektionen im Jahr zurückkehren. Sein seit Jänner amtierender Nachfolger Sabato De Sarno arbeitete zuletzt über 13 Jahre als
Fashion Director bei Valentino. Seine erste Gucci-Kollektion wird er auf der Mailänder Modewoche im September präsentieren.

Giambattista Valli

Er sei der einzige Designer, der schamlos glückliche Kleidung entwerfe, hat die »New York Times« einst geurteilt. Vallis Kreationen sind bekannt für ihre ungewöhnliche Silhouetten und Proportionen. Er schafft Volumen an unerwarteten Stellen: Blusen etwa, die am Leib sehr luftig sind und an den Armen hauteng, bauschige Applikationen an Schultern und Hüften, Jacken mit hängenden, runden Rückenpartien. Der Designer spielt in seinen Kreationen mit Insignien der Mädchenhaftigkeit. 2005 hat Valli sein Label in Paris gegründet und führt es seither allein, was eine Seltenheit ist in der Modewelt, wo inzwischen fast alle Marken von Riesenkonzernen übernommen wurden und Umsatz mit Stangenware, Parfums und Accessoires gemacht werden muss. Der Name des 56-jährigen Italieners findet sich in keinem Outlet. Wohl gerade deshalb wurde er zum Lieblingsdesigner der Superreichen.

Virgine Viard  - Chanel

Als Karl Lagerfeld im Februar 2019 starb, war die London Fashion Week in vollem Gange, die Modewelt stand unter Schock. Seine letzte Show, zwei Wochen nach seinem Tod, wurde ein hoch emotionaler Moment. Schon kurz darauf hatten die öffentlichkeitsscheuen Mehrheitseigner Chanels, die Brüder Alain und Gérard Wertheimer, sich für Virginie Viard als neue Kreativchefin entschieden, die rund 30 Jahre lang als Lagerfelds rechte Hand gearbeitet hatte. Viele konnten das zunächst nicht glauben – wurden doch weitaus prominentere Namen gehandelt. Als sie im Sommer 2019 ihre erste Haute-Couture-Kollektion präsentierte, attestierte ihr die »Vogue« eine »erstaunlich entspannte Vision«. Die Kreationen Viards sind einerseits typisch Chanel, zugleich aber orientiert sie sich stärker am realen Leben von Frauen – daran, was sie tragen wollen. Kritiker monieren, sie zitiere gekonnt das Chanel-ABC, lasse aber Innovation und eine eigene Handschrift vermissen. Ob sie aus Lagerfelds Schatten tritt, bleibt abzuwarten.

Ellie Saab

Kaum ein Designer steht so für betörende Abendkleider wie Elie Saab. Der Libanese gilt als Garant für den großen Auftritt. Mit gerade mal 18 Jahren gründete er 1982 in Beirut sein erstes Modeatelier und zählte bald wohlhabende Frauen aus dem gesamten arabischen Raum zu seinen Kundinnen. Als Halle Berry 2002 als erste Afroamerikanerin den Oscar als beste Schauspielerin gewann, nahm sie den Preis in einer blutroten Saab-Robe entgegen. Die Modepresse überschlug sich. Mit der Einladung der Chambre Syndicale, seine
Haute-Couture-Kollektion in Paris zu zeigen, wurde Saab 2003 in den Olymp der Modewelt aufgenommen. Er blieb aber seiner arabischen Heimat treu, wo er eine riesige Zentrale aufbaute. Als im August 2020 hunderte Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodierten und Teile der Stadt verwüsteten, wurde auch Saabs Ateliers zerstört. Er blieb und widmete seine darauffolgende Kollektion seiner arabischen Heimat.

Portmortem - Vivienne Westwood & Virgil Abloh

r war der erste schwarze Designer an der Spitze eines Luxusmodehauses. Virgil Abloh galt als Genie, verband Hip-Hop, Streetwear und Haute Couture. Als der Amerikaner 2018 bei Louis Vuitton anfing, hat er als Sohn ghanaischer Einwanderer den Zeitgeist perfekt verkörpert. Sein wichtigstes Arbeitsgerät war das Smartphone, über das er den endlosen Bilderstrom des Internets für Ideen anzapfte. Im November 2021 starb Abloh im Alter von 41 Jahren in Folge eines Krebsleidens. Die britische Modedesignerin Vivienne Westwood stand für androgynen Schnitte, Provokation und Politik. Sie galt als Mutter des Punks. Westwoods Kollektionen hatten einen revolutionären Charakter, waren wild und unangepasst. Ihre Karriere begründete sie mit einer Boutique in der Londoner King’s Road, die sie in den Folgejahren zu einer globalen Modemarke aufbaute. Im Dezember 2022 verstarb Westwood mit 81 Jahren.

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