Brauchen Kinder Architektur?
Welche Rolle spielen Design und Architektur für Familien und Kinder in Hotels, in privaten Wohnungen und in Bauträgerprojekten? Was können sie in der Entwicklung und im Zusammenleben fördern und muss es für Kinder »schön« sein?
03.08.2022 - By Heimo Rollett
Austern schmecken Kindern selten. Eine simple Höhle in der Wand oder mittels Vorhang vom Rest abgetrennt taugt hingegen praktisch allen. Die Kids erfinden sich ihre Abenteuerwelt dazu, verlieren sich in ihrer Fantasie, und die Erwachsenen können entspannt ihre Muscheln oder prickelnde Nicht-Kinder-Getränke schlürfen. Architektur für Kinder folgt den gleichen Gesetzen wie jene für Erwachsene: Sie muss gar nicht aufwendig sein, aber sie muss funktionieren.
Im besten Falle gefällt sie dann auch noch den Erwachsenen. Hotels praktizieren das recht vorbildlich, da verbindet sich Ästhetik mit Funktion. Im »Family Hotel Amarin« bei Rovinj wurde in den Zimmern eine mit großen Löchern versehene Wand eingebaut. Das ist nicht allein schalldämmend, runde bunte Stäbchen lassen sich bausteinartig in die geometrisch angeordneten Löcher stecken, und somit können akkurate Muster, fantasievolle Landschaften oder dadaistische Werke gesteckt werden. Fad wird den Kindern in diesen Zimmern sicher nicht. Gut gemachte Kinderecken, Spielstationen, beschattete Freiflächen, Forscher:innenlabore sind immer ein Bringer, wobei: Nicht immer ist ein Mehr an Angebot besser.
Garantiert kein Grünzeugs!
Wer Kinder hat, wird beim Lesen der Speisekarte der »Öko-Essbar« beim Schokoladenhersteller Zotter dankbar nicken: Da werden Nudeln ganz sicher ohne irgendein Grünzeugs angepriesen. Halleluja! Ähnlich verhält es sich bei Räumen und Gebäuden für Kinder, sie müssen einfach konsequent zielgruppengerecht gestaltet werden. Toilettensitze, Tritthocker oder Kästen in Kinderhöhe sollten selbstverständlich sein, wenn man will, dass die Kinder ihre Kleidung und ihr Geschäft selbst unter Kontrolle haben. Es war eine Frau, die vor über 100 Jahren ein radikales Konzept dachte und somit mehr zum Interior-Design beitrug als alle aktuellen Möbelkünstler:innen zusammen. Maria Montessori, deren Schulkonzepte aktuell gerade so beliebt sind, hat Möbel in kindgerechten Größen entworfen und den jungen Menschen so die Teilhabe am Alltag ermöglicht. Die Montessori’sche Grundidee »Hilf mir, es selbst zu tun« setzt voraus, dass das Kind die entsprechenden Werkzeuge, die passende Umgebung vorfindet. Wie soll es Ordnung halten, wenn es nicht zu den Schubladen kommt oder nicht weiß, wo was hingehört?
Da die pädagogische Vordenkerin Montessori ganzheitlich dachte, hatte sie sehr genaue Anforderungen an die Architektur, wobei sie vor allem an die Schönheit appellierte. Hell, freundlich, ästhetisch ansprechend sollten Gebäude und Räume sein. Die Qualität von Materialien war ihr ebenso wichtig wie Proportionen. Die äußere Ordnung übertrage sich auf die innere Orientierung des Kindes. Von Klassenräumen hielt die Italienerin nichts, die Kinder sollten sich in mehreren Räumen (oder auch im Freien) so bewegen können, dass sie die jeweils passende Umgebung für ihre Tätigkeiten wählen können. Ein Jahrhundert später entdeckten Büroberater:innen das Prinzip und verkauften es als Activity Based Working um viel Geld an die Firmen dieser Welt. Büroräume sollten heute übrigens auch flexibel sein, auch das machen Schulen schon längst. Ein Gang mit links und rechts Klassenzimmern ist schon lange out, weiß Wolfgang Gleissner, Geschäftsführer der Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die mit mehr als 400 Schul- und über 200 Universitätsliegenschaften in ganz Österreich ausgewiesene Spezialistin für Bildungsbauten ist.
Maria Montessori hat Möbel in kindgerechten Größen entworfen und den jungen Menschen so die Teilhabe am Alltag ermöglicht.
State of the Art seien Cluster aus multifunktionalen Räumen, die sich um einen zentralen Marktplatz gruppieren. So entstehe eine Schnittmenge von Lernzonen und Bereichen für verschiedene Arten des Arbeitens und Lernens: hier für konzentriertes Arbeiten, dort für soziale Interaktion. Dies lasse sich auch in Bestandsgebäuden verwirklichen. Gleissner: »Wir arbeiten gerade den Schulentwicklungsplan SCHEP 2020 ab.« Das bedeutet für die BIG rund 140 große Bauvorhaben und nur zehn Prozent davon seien ein Neubau.
Kindgerechte Planung
Neben der Schule prägen natürlich die eigene Wohnung und ihr Umfeld die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Auch hier tut sich einiges. Mischnutzung lautet ein Zauberwort, damit es zu keinen Ghettoisierungen à la Pariser Banlieues kommt. Arbeit und Wohnen können familienfreundlich gestaltet sein, indem beides im gleichen Haus und doch getrennt stattfindet. Der Loft-Flügel an der Wiener Taborstraße ist ein Prototyp hierfür. Während das Erdgeschoß mit einer Raumhöhe von vier Metern Platz für kleinteilige Kreativwirtschaft bietet, können die fünf darüber liegenden Geschoße mit einer Raumhöhe von 2,8 Metern sowohl für Wohnen als auch für Arbeiten genutzt werden.
Das Projekt Heimspiel in der Seestadt Aspern hat Bewegung als Schwerpunkt. Ein Sportverein mit Kantine soll unterschwellig zu körperlichen Aktivitäten führen, eine Wohngemeinschaft für Lehrlinge, Ateliers und ein Co-Working-Space sind ebenfalls untergebracht. Auch an andere Zielgruppen wird gedacht. Bei den Wiener Wohnangeboten im Quartier Wolfganggasse und An der Schanze wurden spezielle Konzepte für Alleinerziehende realisiert, teilweise mit zusätzlichen Wohnungen für Tagesmütter und Tagesväter. Überhaupt noch radikaler ging man es beim Quartier Neu Leopoldau an. Bei dieser Umnutzung eines ehemaligen Industrieareals liegt der Schwerpunkt auf kinder- und jugendfreundlicher Raumgestaltung, wofür eine Studie beim SORA Institut beauftragt wurde. Sie hat Lösungsvorschläge erarbeitet, die nun umgesetzt werden – z. B. durch anpassbaren Wohnraum im Gemeindebau, durch für junge Menschen attraktive Mobilitätsangebote, die auch ohne Eltern funktionieren, durch Frei- und Grünraum, der zu Bewegung anregen, aber auch Rückzugsmöglichkeiten bieten soll, und auch durch bespielbare »Möglichkeitsboxen«. Die bieten sicher auch die Möglichkeit, sich eine Höhle zu bauen