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Architekten formen die Zukunft, sie kreieren die Bühne für unser Leben. Ihnen zur Verfügung stehen immer beeindruckendere technische Errungenschaften – und immer knapper werdende Ressourcen.

26.02.2020 - By Nicola Afchar

Architekten beobachten und hören zu, wenn sich die Welt verändert«, sagt der dänische Architekt Bjarke Ingels in einem Video über die eben zu Ende gegangene Ausstellung »Formgiving« in Kopenhagen. Ingels ist ein ausgezeichneter Zuhörer, wie es scheint. Kaum ein anderer Architekt der Gegenwart inspiriert wie er; seine Ideen sind radikal, radikal gut. So plante der 45-Jährige eine Skipiste auf einer Müllverbrennungsanlage unweit von Kopenhagen. Die Dry Slopes kommen ohne Kunstschnee aus und sollen die Dänen davon abhalten, im Ausland Ski zu fahren. Es mag nach Spielerei klingen, was Ingels mit CopenHill geschaffen hat, aber wer dem Mann zuhört, versteht: Er löst Probleme. Er nutzt Flächen, die vorhanden sind, sinnvoll. In Zeiten von Condensed Spaces, dem Boom von Städten und der vertikalen Verdichtung, ein wertvolles Gut. Auch der Courtscraper in New York City von BIG (Bjarke Ingels Group) ist solch ein Geniestreich, er verbindet Hofhaus und Wolkenkratzer, schafft Grün, wo es nur selten zu finden ist. 

Die Gebäude müssen immer mehr können, die Entwickler immer weiter denken. LIVING sprach mit Stefan Brezovich und Johannes Endl vom Immobiliendienstleister ÖRAG, die auch auf Höhe bauen, aber nicht grenzenlos. »Wir gehen davon aus, dass die Gebäude zwar durchschnittlich höher sein, die Städte der Zukunft aber nicht nur aus Super-Wolkenkratzern bestehen werden.« Die Experten verweisen auf Mikroapartments, die sich ja gerade in einer Universitätsstadt wie Wien häufig in Hochhäusern finden. Für Grünflächen gäbe es intelligente Ansätze, so Brezovich und Endl. Etwa: »Halböffentliche Grünzonen innerhalb von Projekten erscheinen größer, wenn sie ohne massiv wahrnehmbare Barriere in private Freizonen übergehen, sodass wiederum ein großzügigeres Raumgefühl entsteht.« Form follows function.

Architekten beobachten und hören zu, wenn sich die Welt verändert.

Bjarke Ingels, dänischer Architekt

Was passiert, wenn der Raum auf uns reagiert? Nassia Inglessis’ Installation »Urban Imprint« hat dieses Jahr in NYC für Furore gesorgt. a-d-o.com/urbanimprint

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Degrowth als Maxime

Die Form, der Stil – gibt es hier Trends? Die Entwürfe von Stararchitekten muten gerne so exaltiert und avantgardistisch an, dass sie es unmöglich machen, sie in eine bestimmte Schublade zu packen. Aber auch ein Ingels entwirft beispielsweise nach Baukasten-Prinzip, wenn es um sozialen Wohnbau geht. Modular, stapelbar, clever – und schön. ÖRAG-Vorstand Brezovich sagt ganz klar: »Quadratisch, praktisch, gut – das liegt im Trend.« Einerseits aus Kostengründen, andererseits: »Klare, nicht zu verspielte Strukturen entsprechen dem Zeitgeist und werden aktuell als ästhetisch wahrgenommen.« Was aber sehr wohl auffällt: Fassaden zeigen immer mehr Facetten, bei den Materialien wird experimentiert, immerhin geht es um die Visitenkarte des Hauses. Das alljährlich erscheinende Kompendium »Häuser des Jahres« (Callwey Verlag) ist hier ein spannender Gradmesser. Man entdeckt viel Holz (Schindeln!), viele Naturmaterialien, viel Charakter. International geht man noch einen Schritt weiter: Fassaden entstammen dem 3D-Drucker (recycelte PET-Flaschen!), werden aus hauchdünnem Aluminium gelasert oder zeigen sich komplett verspiegelt. Letzteres nimmt einen Minitrend auf: Architektur, die changiert, die auf die Umgebung, sei es die Natur oder den Betrachter, reagiert. »Augmented Materiality« (quasi die Ausbaustufe) ist noch eher der Kunst als der Architektur zuzuordnen, aber auch das kann sich ändern.

Wir sind hier am Anfang einer großen Veränderung, die letztlich die Errichtung kostengünstiger machen wird – vor allem im Bereich duplizierbarer Wohngebäude.

Stefan Brezovich Immobilienexperte bei ÖRAG

Vieles dagegen muss sich ändern, und zwar jetzt, um den Klima-Kollaps ­(Begriff aus der Erklärung »Worldwide collective Architects’ Declaration on Climate Breakdown and Biodiversity Loss Emergency«) abzu­wenden. Eine ganze Reihe namhafter Architekturbüros weltweit fordert einen Paradigmenwechsel. Die Rede ist an anderer Stelle auch oft von »hedonistischer Nachhaltigkeit«, die Frage nach der Vereinbarkeit von Luxus und Ressourcenschonung ist nicht einfach zu beantworten. Gebäude und Bauvorgänge, so wird in der Architekten-Erklärung angeführt, sind für 40 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich. Der technische Fortschritt wird hier viel Gutes tun, da ist man sich in der Branche einig. Die Architekten des Büros GRAFT (bekannt unter anderem für sein Wiederaufbauprojekt in New Orleans gemeinsam mit Brad Pitt) verglichen das Zeitalter der Digitalisierung, in dem wir uns seit circa zehn Jahren befinden, etwa mit dem des Betonbaus. Die Digitalisierung sei für die heutigen Architekten das, was der Beton für Le Corbusier war. Betonteile kommen heute teilweise sogar aus dem 3D-Drucker, eine Firma in Deutschland experimentiert damit, aus Wüstensand Beton herzustellen (bisher eignete sich dieser dafür nicht), und ein Architekturbüro arbeitet an der Möglichkeit, tragende Säulen mit Resten zu befüllen, die auf den Baustellen anfallen. Brezovich: »Auch wenn die Ergebnisse und Möglichkeiten heute noch nicht den Anforderungen des europäischen Markts entsprechen, ist klar, dass hier etwas passiert, und zwar auch in den Köpfen! Der Tausende Jahre alte Zugang, jedes Haus als Unikat im Freien bei Wind, Regen, Hitze und Kälte unter hohem Arbeitseinsatz zu errichten, gerät ins Wanken. Wir sind hier am Anfang einer großen Veränderung, die letztlich die Errichtung kostengünstiger machen wird – vor allem im Bereich duplizierbarer Wohngebäude.«

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