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Alles Technik, oder was? Die jüngste Design-Geschichte der Küche

Die Küche ist längst nicht mehr bloß ein Ort zum Kochen. Sie hat sich in den letzten zehn Jahren zum multifunktionalen Lebensraum entwickelt, der möglichst individuell gestaltet wird. Moderne Technik ist dabei völlig selbstverständlich integriert.

03.05.2023 - By Karin Cerny

An den unterschiedlichen Einrichtungsstilen lassen sich stets auch Gesellschaftsmodelle ablesen. Die Küche ist ein Spiegelbild ihrer Zeit. Die berühmte »Frankfurter Küche« aus dem Jahr 1926 der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky gilt als Urtyp der modernen Einbauküche. Alle wichtigen Dinge sollten per Handgriff erreichbar sein. Die Küche wurde zum Ort für Organisation und Effizienz. Gleichzeitig stand die Frau mit dem Gesicht zu Wand, und der Mann wartete im Speisezimmer auf das Essen, analysiert Bulthaup--Chef Marc Eckert: »Natürlich ist das für uns heute ein anachronistisches Weltbild.«

Maximale Funktionalität
Die »Frankfurter Küche« gilt als Urtyp der modernen Einbauküche, ausgearbeitet wurde sie von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky.

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KÜCHE ZUM KOCHEN

Wann also entsteht die moderne Küche, wie wir sie kennen? Und wie hat sie sich in den letzten zehn Jahren weiterentwickelt? 1982 erschien ein Buch, das unseren Blick auf die Küche nachhaltig verändern sollte. Otl -Aicher, einer der prägendsten deutschen -Gestalter und Grafikdesigner, verfasste aber nicht nur »Die Küche zum Kochen«, sondern machte sich gemeinsam mit Bulthaup an eine Revolution, indem alle bisherigen Grund-festen in Frage gestellt wurden. »In vielen Konzepten für die Küche fehlte der Mensch, die Küche wurde als Raum an den Rand -gedrängt, sie war meist weiß und ziemlich steril«, erinnert sich Eckert. Otl Aicher war schockiert, dass die meisten Küchendesigner und -hersteller gar nicht selbst kochen -konnten. Wie soll man eine Küche entwerfen, wenn man die einfachsten Arbeitsabläufe nicht versteht? »Die ersten Jahre schickten wir Aicher auf Bulthaup-Kosten essen und trinken zu den renommiertesten Restaurants Europas. Er probierte sich durch die Speisekarten.« Zugleich aber befragte er Profi-köch:innen, ob sie Gas- oder Elektroherde bevorzugen, wo sie Töpfe und Pfannen -stapeln und wo Arbeitsflächen am besten anzuordnen sind. 

Zeitgemäßer Lebensort  Die moderne Küche ist ein offener Raum, das hat der deutsche Anbieter Bulthaup früh erkannt. Durch die Pandemie wurden Küchen zunehmend flexibler verwendet. bulthaup.com

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»Durch ihn lernten wir, Kochen als kommunikativen Akt zu verstehen«, sagt Eckert. Im Zentrum stand der Arbeitstisch, man wollte sich als Gastgeber:in mit Freund:innen auch während der Zubereitung unterhalten. »Das war der Anfang, unsere Küchen als Lebensraum zu begreifen«. Um die Entwicklung der Küche in den letzten zehn ­Jahren besser zu verstehen, ist dieser Rückblick in die späten 1980er-Jahre wichtig. Eine Kochinsel gehört mittlerweile zur Serienausstattung, die Küchenwerkbank, wie man früher dazu sagte, aber war der erste Meilenstein zur zeitgemäßen Küche, die auf Offenheit, Kommunikation und Flexibilität setzt. 

Gemeinsam abhängen Die Kücheninsel ist ein Megatrend dieses Jahrzehnts: Sie ist Arbeits-fläche, Serviertisch, aber vor allem auch geselliger Treffpunkt und coole Bar. poggenpohl.com

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Raffinierte Details Die italienischen Designeinbauküchen von Valcucine versuchen, die Ergonomie neu zu definieren. Ein neues Logistiksystem hilft dabei. valcucine.com

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NEUE FLEXIBILITÄT

1996 stellte SieMatic erstmalig eine Modulküche vor, die sich frei und individuell kombinieren ließ, das ermöglichte ein gezieltes Einplanen persönlicher Bedürfnisse. Die Küche wurde zu einem offenen Raum, der nahtlos ins Wohnzimmer übergehen kann. Die Pandemie hat diese Flexibilität noch verstärkt, die Küche wurde tagsüber als Homeoffice genutzt, abends, um mit der Familie gemeinsam abzuhängen. Sie ist ein Raum zum Leben, Arbeiten, Für-die-Schule-Lernen, Zoomen, Feiern und Sichwohlfühlen geworden. Längst passt nicht mehr eine Küche für alle. Individualität wird großgeschrieben. »Die persönliche Lebenssituation und der Geschmack der Nutzer:innen bestimmen den Look der Küche«, bestätigt auch Dirk Lange, Geschäftsführer des Luxusküchenherstellers Poggenpohl. »Diese wird maßgeschneidert. Die Küche ist der schönste und lebendigste Ort im ganzen Haus, für die einen ist sie Lieblingsdesignobjekt, für andere Energiezentrum und Tummelplatz der Familie, wo sich alle um Koch- und Wasserstelle herum versammeln. Fast archetypisch.«

Ab den 2010er-Jahren setzt eine neue Technikbegeisterung ein. Digitalisierung, Technologisierung, Globalisierung waren Trends, die sich auch in unseren Küchen fortsetzten. Kochendes Wasser kam plötzlich direkt aus der Armatur, man bereitete Essen im Wok oder in der Tajin zu, Abzugshauben, Induktionsherde und Touchscreens wurden Serienausstattung. Böse Zungen behaupten, Schuld an den vielen, meist dann kaum verwendeten Geräten sei die neue Kochbegeis-terung von Männern, die verstärkt an den Herd drängten. Das machte aus den Küchen moderne Hobbykeller und technoide, oft auch sehr sterile Labore: Vom Niedriggarer bis zum Profiteigrührer, nichts durfte in der perfekten Ausstattung fehlen. Zugleich wurde Essen Teil der Popkultur, hippe Köche wie Jamie Oliver lockten auch junge Menschen zu den Töpfen, zahlreiche TV-Formate machten Lust aufs Selberkochen. Die Standards daheim stiegen, wenn man Gäste einlud, es reichte keine simple Hauptspeise mehr. 

Individuelles Raumkonzept SieMatic hat 1996 erstmalig eine Modulküche vorgestellt, die sich individuell kombinieren lässt – ein Trend, der sich flächendeckend durchgesetzt hat. siematic.com

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Radikale Reduktion next125 steht dafür, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren – in einer Küche, die sich als Mittelpunkt des Hauses versteht. next125.com

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REGIONALE PRODUKTE

Hinzu kam in den letzten Jahren ein verstärktes Bewusstsein für regionale und -biologische Produkte, das sich auch im Küchendesign niederschlug. Wer gesundes Essen auf dem Teller hat, der macht auch gern ein bisschen mehr Geld für eine nachhaltige Küche locker, die zum Beispiel auf Steinplatten aus der Region setzt. »Die -Auffassung von Luxus hat sich in den
letzten Jahren grundlegend geändert«, betont auch Michael Kersting aus dem Geschäftsführungsteam von SieMatic, »beim neuen Konzept von Luxus geht es weniger um oberflächliche Statussymbole, die die Kund:innen besitzen wollen, sondern vielmehr darum, wer sie sein wollen. Sie wollen von Marken inspiriert und emotional angesprochen werden. Marken, die ihr eigenes Werteverständnis teilen und mit deren Werten sie sich identifizieren.«

Immer mehr Architekt:innen begannen, sich für Kücheneinrichtung zu begeistern, damit der Wohnraum aus einem Guss ist. Das tschechische Designteam Flat White beispielsweise betont, dass der Trend zur Gastro-nomie als Lifestyle auch Küchen verändere. »Wir wollen uns in der Küche entspannen und wohlfühlen«, so Inneneinrichterin Hana Davidová von Flat White. »In Zukunft wird ökologisches Denken auch in der Küche immer wichtiger werden. Wir wollen selbst gutes, gesundes Essen zubereiten und lernen, es so nachhaltig wie möglich zu tun. Ich denke, dass der nächste logische Schritt sein wird, sparsamer zu leben. Die Tendenz geht zu neuen nachhaltigen Materialien und Technologien.« Dabei stehen Langlebigkeit und Hochwertigkeit hoch im Kurs, die Küche soll nicht nur gut aussehen, sie soll auch eine Oase sein, in die man sich nach einem -anstrengenden Arbeitstag zurückziehen kann, um beim Kochen allein oder gemeinsam mit der Familie oder mit Freund:innen den Kopf frei zu bekommen. 

Hochwertige Materialien Hier ist Genuss in den Stein gemeißelt. Kombiniert mit edlem Holz machen STRASSER-Steine jede Küchenlösung, wie diese von Schelbach Home, als einzigartige Qualitätsarbeit erkennbar. strasser-steine.at, schelbach-home.com

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Flat White Die tschechischen Architekt:innen und Innenausstatter:innen Flat White betrachten ihre Küchen gesamtheitlich: individuell hergestellt mit nachhaltigen Materialien. flatwhite.archi

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ANALOGER ORT

Dem kann sich Bulthaup-Chef Marc Eckert nur anschließen: »Lange waren Küchen technisch viel zu kompliziert und zu überladen. Aber im Grund ist und bleibt die Küche ein zutiefst analoger Ort. Wir haben eine -Sehnsucht danach, mit unseren Händen zu arbeiten, und suchen nach diesen haptischen Erlebnissen.« Wenn es nach Eckert geht, sollte die zeitgemäße Küche ohnehin ein Ort sein, der nicht in Perfektion erstarrt. »Wahrscheinlich sind wir alle durch die Fernsehkochsendungen ein wenig eingeschüchtert, wo Profis in perfekten Küchen perfekte Gerichte zubereiten. Ich finde aber, daheim sollte die Küche ein möglichst angstfreier Raum sein. Man möchte sich nicht ständig unter Stress setzen. Deshalb denke ich, dass wir in Zukunft mehr die Kraft des Authentischen in der Küche feiern werden.«

Das haptische Erlebnis zählt auch bei Oberflächen, Naturstein ist gefragt. In den letzten Jahren ging der Trend in Richtung dunkle Farbtöne – die schwarze Küche feierte ein großes Revival. Aber es zeichnet sich gerade auch wieder mehr Mut zur Farbe ab, gern auch hin zu Pastelltönen. Dunsthauben werden leiser, unsichtbarer und energiesparender. Natürliche Materialien wie Holz, aber auch Beton verleihen minimalistisch gestalteten Küchen eine individuelle Oberfläche (auch mit Maserung). Wichtig ist, dass die Küche schön und individuell altert. Auch der moderne Country-Küchen-Look kommt wieder in Mode. Aber im Grunde kann man ohnehin nicht viel falsch machen, wenn man drei Regeln befolgt: nicht mehr Geräte anschaffen, als man verwendet, die Küche nicht als Statussymbol begreifen, sondern als Lebensraum nutzen und auf Nachhaltigkeit achten. 

Popstahl bringt willkommene Abwechslung in den Kochalltag. Pastellige, mehrfarbige Küchen liegen wieder im Trend. popstahl.de

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Erschienen in:

Falstaff LIVING Jubiläumsausgabe

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